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einen Bestandtheil derselben entdeckte und sein Verhalten gegen den Pflanzenkäse erkannte.

Werden die bittern Mandeln fein gepulvert und mit Wasser der Destillation unterworfen, so erhält man ein starkriechendes Wasser, welches milchig getrübt ist durch eine Menge darin herumschwimmender Oeltröpfchen, die nach und nach als Oelschicht sich zu Boden setzen. Es ist dies ein flüchtiges Oel von dem stärksten Geruch und Geschmack nach bittern Mandeln, schwerer als Wasser und noch dadurch ausgezeichnet, dass es an der Luft unter Sauerstoffaufnahme zu geruchlosen Krystallen von Benzoesäure erstarrt; ausser diesem flüchtigen Bittermandelöl, welches jetzt in Menge als Parfümerie-Artikel im Handel vorkommt, enthält das übergegangene Wasser noch eine beträchtliche Menge Blausäure.

Blausäure und Bittermandelöl, zwei Producte der Destillation der bittern Mandeln mit Wasser, sind nun als solche in den bittern Mandeln schlechterdings nicht nachzuweisen. Wären beide darin fertig gebildet vorhanden, so wie das Terpentinöl in dem Fichtenharz oder das Rosenöl in der Rose, so würde man voraussetzen müssen, dass es, ähnlich wie diese, durch fette Oele oder andere Lösungsmittel daraus ausziehbar sein würde, allein das aus den bittern Mandeln durch Pressen gewonnene fette Oel ist eben so mild und geschmacklos wie das aus süssen Mandeln; es lässt sich darin keine Blausäure oder flüchtiges Bittermandelöl entdecken, obwohl diese leicht löslich darin sind. Kocht man die bittern Mandeln mit Alkohol aus, so findet sich auch in diesem keine Spur weder von Blausäure noch von flüchtigem Bittermandelöl; man erhält aber daraus nach dem Verdunsten des Alkohols einen schönen weissen, krystallinischen Körper, der in seiner leicht erfolgenden Lösung in Wasser einen schwach bittern Geschmack besitzt und von dem Zucker und dem Salicin durch einen geringen, aber nie fehlenden Stickstoffgehalt sich wesentlich unterscheidet. Aus diesem Körper musste die Blausäure und das Bittermandelöl entstanden, oder die sie liefernden unbekannten Materien in den Mandeln müssen zu Amygdalin durch die Wirkung des Alkohols zusammengetreten sein, – dies war der Schluss, zu welchem der Entdecker des Amygdalins geführt wurde; und da er den Schlüssel zum Räthsel nicht fand, so schrieb er, wie dies so häufig geschieht, die Bildung des Amygdalins oder seine Umwandlung in Blausäure und Bittermandelöl der Mitwirkung eines unfassbaren, unbegreiflichen Wesens zu, welches sich seiner Natur nach der menschlichen Erkenntniss entzöge.

Alles hat sich aber höchst einfach erklärt; es hat sich gezeigt, dass, wenn man eine Auflösung von Amygdalin in Wasser mit frischer Mandelmilch zusammenbringt, es sich in wenigen Augenblicken zerlegt, und in Folge einer neuen Ordnungsweise das Amygdalinatom sich in Blausäure, flüchtiges Bittermandelöl und Zucker spaltet, deren Elemente (im Ganzen 90 Atome) sich bis auf vier Wasseratome, welche hinzugetreten sind, in dem Amygdalinatom zu einer einzigen Gruppe vereinigt finden.

Die Menge des Amygdalins, welche durch die Wirkung des Pflanzenkäses unter diesen Umständen in diese Verbindungen zerfällt, ist einigermassen abhängig von der Menge des Wassers in der Mischung; je nachdem das Wasser hinreicht um alle Producte, die sich bilden, aufzulösen oder nicht, wird alles Amygdalin oder nur ein Theil davon zersetzt.

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 139. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_139.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)