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Die Nahrung der Menschen und Thiere besteht aus zwei in ihrer Zusammensetzung von einander durchaus verschiedenen Stoffen. Die eine Classe dient zur Bildung des Blutes und zum Bau der geformten Theile des Körpers, die andern sind ähnlich dem gewöhnlichen Brennmaterial zusammengesetzt. Der Zucker, das Stärkmehl, das Gummi des Brodes können als umgewandelte Holzfaser (wie wir sie denn auch aus dem Holze darzustellen vermögen) angesehen werden. Das Fett steht in seinem Kohlengehalt der Steinkohle am nächsten. Wir heizen unsern Körper ähnlich, wie dies bei einem Ofen geschieht, mit Brennmaterialien, welche die nämlichen Elemente wie Holz und Steinkohle enthalten, die sich aber sehr wesentlich durch ihre Löslichkeit in den Säften des Körpers davon unterscheiden.

Es ist einleuchtend, dass die Nahrungsstoffe, welche die Temperatur des Körpers hervorbringen, keine mechanische Kraft erzeugen, weil die Kraft nichts Anderes als die umgewandelte Wärme ist und weil die Wärme, welche die Temperatur erhält und erhöht, nicht drückt oder zieht, sondern wärmt.

Alle in dem lebendigen Leibe vorgehenden mechanischen Wirkungen, wodurch die Bewegung der Organe und ihrer Glieder vermittelt wird, sind begleitet und abhängig von einem Wechsel in der Zusammensetzung und Beschaffenheit der höchst zusammengesetzten schwefel- und stickstoffhaltigen Bestandtheile seiner Muskeln, welche von dem Blute geliefert werden und in letzter Form von eben diesen Bestandtheilen stammen, welche der Mensch in der Nahrung geniesst; indem ihre Elemente sich zu neuen und einfacheren Verbindungen ordnen, bringen sie in Folge dieses Ortswechsels oder Aenderung in ihrer Lage Bewegung hervor; die Molecularbewegung der sich umsetzenden Theile überträgt sich auf die Masse der Muskelsubstanz. Es ist klar, der Stoffwechsel ist die Quelle der mechanischen Kraft im Körper. [1]

  1. Um sich eine klare Vorstellung von diesem Vorgang zu machen, muss man sich an analoge Erscheinungen erinnern. Nicht nur im lebendigen Körper, sondern auch ausserhalb findet ein solcher Stoffwechsel in allen schwefel- und stickstoffhaltigen Bestandtheilen der Pflanzensäfte oder des thierischen Körpers statt. In einem Stück Fleisch, wenn es in Berührung mit Wasser der Temperatur des menschlichen Körpers ausgesetzt wird, stellt sich äusserst rasch ein Auseinanderfallen seiner Bestandtheile ein (sog. Fäulniss). Wird es in Zuckerwasser gebracht, so geht dies in sogenannte Gährung über. Die Zuckeratome zerfallen ebenfalls und spalten sich in Kohlensäure- und Alkoholatome, beide zusammen enthalten die Elemente des Zuckeratoms. Diese Spaltung ist nicht die Folge einer chemischen Anziehung, sondern einer einfachen Molecularbewegung, eines Wechsels des Orts und der Elemente des Zuckeratoms, die Wirkung also einer Kraft oder eines Druckes, welcher ihre Bewegung bedingt hat. In der Gährung kennen wir keine andere Ursache als die Zersetzung eines schwefel- und stickstoffhaltigen Stoffes, und es ist offenbar die Molecularbewegung, in welcher sich dessen Atome befinden, welche die Bewegung und damit den Umsatz in dem Zuckeratome bewirkt hat. In der Gährung werden nicht die Zuckeratome, sondern die kleinsten Theilchen derselben (Molecule der Zuckeratome) in Bewegung versetzt (siehe den 20. Brief); in der Muskelbewegung wirkt dieselbe Ursache: eine Molecularbewegung setzt sich um in dem Apparate oder Maschinentheile, den wir Muskel nennen, in eine Massenbewegung; sie überträgt sich dem Muskelatome (dem anatomischen Element), nicht seinen Moleculen. Bei der Wärmeerzeugung durch Schlag und Stoss, z. B. beim Hämmern des Stahlstabs (s. S. 105) setzt sich eine Massenbewegung (des Hammers) um in eine Molecularbewegung (in Wärme) und in ganz ähnlicher Weise übt ein Körper beim Erwärmen (durch Molecularbewegung) einen Druck (Massenbewegung) auf seine Umgebung aus.

    WS: Die auf der nächsten Seite fortgesetzte Anmerkung wurde hier vervollständigt

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 110. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_110.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)