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Ganz dem gewöhnlichen Sprachgebrauch und der Bedeutung des Wortes entgegen hat man die chemische Kraft Verwandtschaft, Affinität, genannt. Man sagt: zwei Körper haben Verwandtschaft zu einander, wenn sie, mit einander in Berührung, die Fähigkeit zeigen, sich mit einander zu verbinden. Dieser Ausdruck ist entschieden falsch, wenn man damit sagen wollte, dass solche Körper verwandt mit einander wären.

Die vierundsechszig einfachen Körper durch einander auf einem Tische auf einen Haufen gebracht, würde ein Kind nach ihrer äusseren Beschaffenheit in zwei grosse Classen ordnen können: in eine Classe, deren Glieder metallisches Ansehen besitzen, und in eine zweite, denen das metallische Ansehen abgeht.

Die erste umfasst die Metalle, die andern heissen Metalloide. Diese grossen Classen lassen sich nun wieder, je nach der Aehnlichkeit in andern Eigenschaften, in kleinere Gruppen scheiden, in denen man also diejenigen vereinigt, die in ihren Eigenschaften einander am nächsten stehen.

In ganz gleicher Weise zeigen zusammengesetzte Körper Aehnlichkeiten oder Unähnlichkeiten in ihren Eigenschaften, und wenn man alle familienweise ordnet, die also zusammenbringt, die von einem Vater oder einer Mutter entspringen, so zeigt es sich, dass die Glieder einer und derselben Familie sehr wenig, oft nicht die geringste Neigung zeigen, neue Mischungen zu bilden; sie sind ihren Eigenschaften nach Verwandte, haben aber keine Anziehung, keine Verwandtschaft zu einander; die Glieder hingegen zweier Familien, die in ihren Eigenschaften recht weit von einander abstehen, diese ziehen sich stets am stärksten an.

So haben die Verbindungen zweier Glieder derselben Familie die leicht erkennbaren Tugenden und Fehler der Familie in ungemindertem, oft in erhöhtem Grade, wenn aber zwei von ganz entgegengesetzten Stämmen sich alliiren, so geht stets ein neuer Körper daraus hervor, an dem man die Eltern nicht wieder erkennt.

So stehen Eisen und Quecksilber (zwei Metalle) den Stammbäumen nach unendlich näher als Eisen und Schwefel, oder Quecksilber und Schwefel (ein Metall und ein Metalloid). An einer Verbindung zwischen den beiden ersteren erkennt man sogleich den Ursprung, aber wer sollte im Zinnober das flüssige silberweise Metall, den gelben brennbaren Schwefel vermuthen? Hieraus ergeben sich in den Zusammensetzungen selbst verschiedene Grade der Verwandtschaft, womit man immer die ungleiche Fähigkeit oder das ungleiche Streben ihrer Theile bezeichnet, sich mit einander zu verbinden; auf diesen verschiedenen Graden der Anziehung beruhen alle Zersetzungen.

Es ist erwähnt worden, dass zur Aeusserung der chemischen Verwandtschaft unbedingt erforderlich ist, dass sich die Theilchen der Körper berühren, oder in unmessbar kleiner Entfernung sich befinden. Jedermann kennt nun die Wirkung, welche die Wärme auf die Körper ausübt. Ein eiserner Nagel, noch so fest in die Wand geschlagen, wird allmählich lose und fällt zuletzt heraus. Im Sommer ist das Eisen mehr erwärmt als im Winter, es dehnt sich im Sommer aus und treibt mit grosser Kraft das Holz und den Stein aus einander, im Winter zieht sich das Eisen aber in weit höherem Grade als der Stein oder das Holz zusammen.

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 56. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_056.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)