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Wenn man nun in Betracht zieht, dass im 13. bis 15. Jahrhundert alles Wissen von der Natur und ihren Kräften sich in der Alchemie, der Magie und Astrologie vereinigte, so wird es erklärlich, wie allmählich alchemistische Bezeichnungsweisen für irdische Vorgänge in die Sprache des gewöhnlichen Lebens übergingen. Die Erscheinungen des organischen Lebens, das Leben selbst, der Tod, die Auferstehung wurden durch die in der Alchemie gewonnenen Begriffe verständlicher, sie liessen sich wissenschaftlich nur durch die Sprache der Wissenschaft, welche die Alchemie war, versinnlichen.

„Wir armen Menschen,“ sagt Basilius Valentinus, „werden für unsere Sünden allhier durch den Tod, den wir wohl verdient, in das Irdische, nämlich das Erdreich, eingesalzen, bis so lange wir durch die Zeit putrificirt werden und verfaulen, und dann hinwiederum endlich durch das himmlische Feuer und Wärme auferweckt, clarificirt und erhoben werden zu der himmlischen Sublimation und Erhöhung, da alle Fäces, Sünden und Unreinigkeiten abgesondert bleiben.“ (Kopp. II. 236.) Luther lobt die Alchemie in seiner Canonica „wegen der herrlichen und schönen Gleichnisse, die sie hat mit der Auferstehung der Todten; denn eben so wie das Feuer aus einer jeden Materie das Beste auszieht und vom Bösen scheidet, und also selbst den Geist aus dem Leib in die Höhe führt, dass er die obere Stelle besitzt, die Materie aber, gleich wie ein todter Körper, unten am Boden liegen bleibt, also wird auch Gott am jüngsten Tag durch sein Gericht, gleich wie durch Feuer die Gottlosen und Ungerechten scheiden von den Gerechten und Frommen. Die Gerechten werden auffahren gen Himmel, die Ungerechten aber werden unten bleiben in der Hölle.“ (Kopp. II. 238.)

Erst im 13. Jahrhundert entstand die Idee, dass der Stein der Weisen gesund machende und verjüngende Eigenschaften besitze. Sie entwickelte sich aus der Vorstellung, dass der Lebensprocess nichts weiter sei, als ein chemischer Process. Mit dem Stein der Weisen vermochte man die Metalle von ihren Gebrechen zu heilen, sie gesund zu machen, in Gold zu verwandeln, und es lag die Meinung nahe, dass er eine gleiche Wirkung auf den menschlichen Körper haben müsse. Arnold Villanovus, Raymund Lullus, Isaac Hollandus überbieten sich in Anpreisung seiner Heilkraft. In seinem Opus Saturni sagt Hollandus: „Ein Waizenkorn gross soll in Wein gelegt und diesen der Kranke trinken. Die Wirkung des Weins werde zum Herzen dringen und sich auf alle Säfte verbreiten. Der Kranke werde schwitzen und dabei nicht matter, sondern immer stärker und lustiger werden. Diese Gabe soll alle neun Tage wiederholt werden, wo es dem Menschen dünken solle, er sei kein Mensch mehr, sondern ein Geist. Es soll ihm zu Muth werden, als sei er neun Tage im Paradiese und nähre sich von dessen Früchten.“ Salomon Trismosin behauptet, er habe sich im hohen Alter mittelst eines Grans vom Stein der Weisen verjüngt, seine gelbe runzlige Haut sei glatt und weiss, die Wangen roth, das graue Haar sei schwarz, der gekrümmte Rücken sei gerade geworden. Frauen von 90 Jahren habe er damit die volle Jugend wiedergegeben.

Nachdem sich die Idee ausgebildet hatte, dass der Stein der Weisen eine Universalmedicin sei, kam man auf dem natürlichsten Wege auf die

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 50. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_050.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)