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war ein blosser Punkt im unendlichen Raum, ein kleiner Planet, der sich um die Sonne bewegte.

Wie den, welcher von einem Erdbeben überrascht wird, ein unbeschreibliches Gefühl von Bangigkeit befällt, wenn er, einem wogenden Meere gleich, wanken fühlt, was Gewohnheit und Nachdenken ihn als das Festeste und Unerschütterlichste erkennen liess, so durchzuckten, in Folge der Entdeckungen der Wissenschaft, Angst und Zweifel die civilisirte Welt. Die Erde war nicht mehr der Mittelpunkt des Weltgebäudes, das Gewölbe des Himmels hatte seine Säulen, der Thron Gottes, wie manche ihn sich gedacht, seinen Platz verloren, es gab kein Oben mehr und kein Unten.

Was der Glaube für fest begründet hielt, war zertrümmert, was für Wahrheit galt, zeigte sich als Irrthum.

Zahlreiche Prophezeiungen verknüpfen in der ersten Hälfte des sechszehnten Jahrhunderts die Thatsache der Entdeckung der neuen mit dem Untergang der alten Welt; sie sind Zeugen dieser erregten Zeit.

Nachdem Columbus dem Weltmeer seine Schrecken genommen, und Copernicus „jenes Selbstvertrauen auf die Macht des Erkennens gelehrt hatte, das die Bänder äusserlicher Autorität zersprengt und nur dem Zeugnisse der Vernunft Glauben schenkt“*) [1], erwachte auch in Andern der Muth zur Durchforschung unbekannter geistiger Regionen.

Die Kraft war bereits vorhanden, welche den mächtigen Anstoss fortpflanzen sollte in alle Gebiete der Wissenschaft. Gleichwie durch das Herz das Blut seine Bewegung empfängt, welche alle körperliche Thätigkeit vermittelt, so verbreitete Gutenberg’s Erfindung in dem neu sich gestaltenden geistigen Organismus Wärme und thätiges Leben**)[2].

In Folge der Errichtung zahlreicher Universitäten***)[3] und der Verbreitung griechischer Gelehrsamkeit im Abendlande, nach der Eroberung von Konstantinopel durch die Türken †)[4], wandte sich die Aufmerksamkeit der Menschen den geistigen Schätzen zu, welche die alten Griechen und Römer hinterlassen hatten. Das classische Alterthum verbreitete, gleich der feststehenden Sonne, ein lebenerweckendes Licht; als die Gelehrten anfingen, von diesen unerreichten Mustern zu lernen und sich nach ihnen zu bilden, da schärften sich die Augen ihres Geistes; das Studium der Alten, indem es zur kritischen Prüfung alles Ueberlieferten führte, zerbrach die Fesseln der Schulweisheit.

In der Natur wiedererkannte man die nie versiegende Quelle einer reineren Erkenntniss; sie erschien als eine neu entdeckte, in einem Meer von Unwissenheit geistig untergegangene Atlantis.

  1. *) Carriere in seinem ausgezeichneten Werke: Die philosophische Weltanschauung der Reformationszeit in ihren Beziehungen zur Gegenwart. Tübingen, (S. 125.) Cotta 1841.
  2. **) In demselben Jahr, in welchem Columbus geboren wurde, 1436, erfand Gutenberg den Bücherdruck.
  3. ***) 1300 Oxford. 1347 Prag. 1384 Wien. 1385 Heidelberg. 1388 Köln. 1392 Erfurt. 1401 Krakau. 1406 Würzburg. 1409 Leipzig.
  4. †) 1453.
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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 42. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_042.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)