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Bekannt ist auch Lejeune Dirichlets Vorliebe für die Arithmetik; Kummers wissenschaftliche Tätigkeit war weitaus in erster Linie der Zahlentheorie geweiht, und Kronecker gab dem Empfinden seines mathematischen Herzens Ausdruck durch die Worte: „Die ganze Zahl schuf der liebe Gott, alles übrige ist Menschenwerk.“

In Anbetracht der Schlichtheit ihrer Voraussetzungen ist sicher die Zahlentheorie der Wissenszweig der Mathematik, dessen Wahrheiten am leichtesten zu begreifen sind. Aber die arithmetischen Begriffe und Beweismethoden erfordern zu ihrer Auffassung und völligen Beherrschung einen hohen Grad von Abstraktionsfähigkeit des Verstandes, und dieser Umstand wird bisweilen als ein Vorwurf gegen die Arithmetik geltend gemacht. Ich bin der Meinung, daß alle die anderen Wissensgebiete der Mathematik wenigstens einen gleich hohen Grad von Abstraktionsfähigkeit des Verstandes verlangen – vorausgesetzt, daß man auch in diesen Gebieten die Grundlagen überall mit derjenigen Strenge und Vollständigkeit zur Untersuchung zieht, welche tatsächlich notwendig ist.

Was die Stellung der Zahlentheorie innerhalb der gesamten mathematischen Wissenschaft betrifft, so faßt Gauss in der Vorrede zu den Disquisitiones arithmeticae die Zahlentheorie noch lediglich als eine Theorie der ganzen natürlichen Zahlen auf mit ausdrücklicher Ausschließung aller imaginären Zahlen. Dementsprechend rechnet er die Kreisteilung an und für sich nicht zur Zahlentheorie, fügt aber hinzu, daß „ihre Prinzipien einzig und allein aus der höheren Arithmetik geschöpft werden“. Neben Gauss geben auch Jacobi und Lejeune Dirichlet wiederholt und nachdrücklich ihrer Verwunderung Ausdruck über den engen Zusammenhang zahlentheoretischer Fragen mit algebraischen Problemen, insbesondere mit dem Problem der Kreisteilung. Der innere Grund für diesen Zusammenhang ist heute völlig aufgedeckt. Die Theorie der algebraischen Zahlen und die Galoissche Gleichungstheorie haben nämlich in der allgemeinen Theorie der algebraischen Körper ihre gemeinsame Wurzel, und die Theorie der Zahlkörper insbesondere ist zugleich der wesentlichste Bestandteil der modernen Zahlentheorie geworden.

Das Verdienst, den ersten Keim für die Theorie der Zahlkörper gelegt zu haben, gebührt wiederum Gauss. Gauss erkannte die natürliche Quelle für die Gesetze der biquadratischen Reste in einer „Erweiterung des Feldes der Arithmetik“, wie er sagt, nämlich in der Einführung der ganzen imaginären Zahlen von der Form ; er stellte und löste das Problem, alle Sätze der gewöhnlichen Zahlentheorie vor allem die Teilbarkeitseigenschaften und die Kongruenzbeziehungem, auf jene ganzen imaginären Zahlen zu übertragen. Durch die systematische und allgemeine Fortentwickelung dieses Gedankens, auf Grund der neuen weittragenden Ideen Kummers, gelangten später Dedekind und Kronecker zu der heutigen Theorie des algebraischen Zahlkörpers.

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David Hilbert: David Hilbert Gesammelte Abhandlungen Erster Band – Zahlentheorie. Julius Springer, Göttingen 1932, Seite 64. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:David_Hilbert_Gesammelte_Abhandlungen_Bd_1.djvu/81&oldid=- (Version vom 31.7.2018)