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von dem ersteren. Wann immer nämlich der ruhende Beobachter seine Zeit dem fliegenden signalisieren wollte, ob im Bruchteil einer Sekunde nach der Abreise, ob eine, zwei, drei Sekunden nachher – es gelänge ihm niemals, vergeblich wartete der andere auf das Signal. Das Signal hinter dem Fliegenden her holte eben den mit der gleichen Geschwindigkeit wie das Signal Reisenden in alle Ewigkeit nicht ein. Also das Kriterium stimmt nicht. Die Uhren differierten nach einer, nach zwei, nach drei Sekunden um eine, zwei, drei Sekunden. Das bedeutet aber im Urteil des ruhenden Beobachters, daß die Zeit auf der fliegenden Uhr um ebensoviel nachgeht. In unserem Grenzfall, wo die Reise mit Lichtgeschwindigkeit vor sich geht, müßte der ruhende Beobachter erklären, jene andere Uhr käme in der Zeit überhaupt nicht voran. Die Zeit stünde dort still. Tatsächlich kommen die Einsteinschen Gleichungen zu diesem Resultat. Für den mit der Uhr reisenden Beobachter, sagt Einstein, gelte dasselbe. Das heißt, im Urteil des Zurückbleibenden würde jener niemals alt. „Und wenn er auf einer gebrochenen Reiselinie wieder an seinen Ausgangspunkt zurückkehrte?" fragt man den Vortragenden in der Diskussion. – „So bliebe er in unserem Urteil so jung wie bei der Ausreise," erwidert Einstein mit vollem Ernst, „selbst wenn wir Zurückgebliebenen inzwischen Männer mit weißen Bärten geworden sind – die Gleichungen liefern für jede Richtung der Bewegung, auch für eine gebrochene Bewegung, unerschütterlich die selben Resultate." – Wir sehen einander an. Das klingt märchenhaft. Märchenhaft? Gewiß, die alten Märchen vom Mönch von Heisterbach, vom Rip van Winkle, von Urashima Taro steigen auf. Merkwürdig, wie die Volksphantasie bei den Deutschen, bei den Amerikanern, bei den Japanern in der gleichen Richtung gearbeitet hat – alle drei Märchen erzählen ja von Leuten, deren Leben still steht, viele hundert Jahre lang, während die andern altern. So fanden sie bei ihrer Rückkehr ein anderes Land und eine andere Generation.

„Und wenn wir uns nun gar vorstellen," wendet ein anderer ein, „es gäbe irgendeine Wirkung, die sich mit Ueberlichtgeschwindigkeit, sagen wir, längs eines Bandes fortpflanzte?“ – „So müßte es möglich sein,“ erwidert der Vortragende, „einen Mechanismus zu ersinnen, mittels dessen man in die Vergangenheit wirken kann." – „Und daraus folgt?“ - „Lediglich, daß diese Vorstellung für uns einen so erfahrungswidrigen Charakter trägt, daß wir sie bis zum Beweis des Gegenteils abzulehnen haben. Wir müssen also annehmen, auf Grund unserer bisherigen Erfahrung annehmen, daß eine Ueberlichtgeschwindigkeit unmöglich, daß sie sinnlos sei." – Wieder taucht bei den Hörern eine Erinnerung auf. Die Erinnerung an den merkwürdigen Roman „Die Zeitmaschine“ des Engländers Wells, der vor einem Dutzend Jahren seinen Ingenieurhelden eine Maschine konstruieren ließ, mittels der er sich in die Vergangenheit zurückversetzen konnte. In einer merkwürdigen Vorahnung kommender Forschung spricht jener Dichter von der Zeit als einer vierten Dimension, die den uns geläufigen drei Dimensionen des Raumes gleichwertig, ja mit ihnen vertauschbar sei. Kommt doch der Mathematiker Minkowski, auf Einstein aufbauend, auch zu dem Ergebnis, das physikalische Geschehen werde dargestellt in einem vierdimensionalen Raume, in dem die Zeit die gleiche Rolle spielt wie die drei körperlichen Dimensionen. Und weiter schließt Minkowski: „Von Stunde an sollen Raum für sich und Zeit für sich völlig zu Schatten herabsinken, und nur noch eine Art Union von ihnen soll Selbständigkeit bewahren, denn niemand hat einen Ort anders bemerkt als zu einer Zeit, eine Zeit anders als an einem Ort.“ Und die Zeit? Sie kann ganz oder zum Teil ersetzt werden, ausgelöscht werden durch die Bewegung. Das, was wir Zeit nennen, wird durch eine Bewegung, die mit Lichtgeschwindigkeit vor sich geht, völlig kompensiert. Ein mit Lichtgeschwindigkeit im Raume reisender Körper wird, von uns aus betrachtet, ewig zeitlos sein. Also, Raum ist Zeit, und Zeit ist Raum. Um es handfest auszudrücken: Die Bewegung frißt die Zeit.

Auch auf Formen der starren Körper, die bewegt werden, greifen die Einsteinschen Gleichungen über und tun zwingend dar, daß es keine starren Formen gibt. Sie verändern sich bei der Bewegung der sogenannten starren Körper für den ruhenden Beobachter. Ich gestehe, das klingt für unsere Erfahrung ungeheuerlich. Aber vielleicht doch nicht ungeheuerlicher, als vor einem halben Jahrtausend Galileis Behauptung, daß eine Kirchturmspitze kein fester Punkt im Raume sei, sondern wegen der Bewegung der Erde um sich selbst und um die Sonne, innerhalb vierundzwanzig Stunden im Sonnensystem eine Spirale beschreibe. Heute ist ein Schulkind damit vertraut. Auch anschaulich. Die Vorstellbarkeit dafür aber versagte noch zu Galileis Zeiten. Zuerst mußten die unanfechtbaren Ergebnisse der mathematischen Formeln den Vorstoß machen. Zuerst mußten Millionen nachprüfender Gehirne, begeistert oder sträubend, immer wieder bekennen: „Ja, kein Zweifel, es ist so, es muß so sein. Dann erst folgte, langsam im menschlichen Gehirn sich neu bildend, die Vorstellbarkeit. Heute hat diesen Galileischen Jahresring menschlicher Erkenntniß

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Fritz Müller-Partenkirchen: Das Zeitproblem. , Berlin 1911, Seite 3 (Spalte 2). Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Zeitproblem_(1911).djvu/6&oldid=- (Version vom 17.1.2024)