Textdaten
Autor: Fritz Müller-Partenkirchen
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Titel: Das Zeitproblem
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aus: Berliner Tageblatt. Beilage "Der Zeitgeist" Nr. 42, 16. Oktober 1911, Seiten 1–2 (Erster Teil); Nr. 43, Seite 3, 23. Oktober 1911 (Zweiter Teil).
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Erscheinungsdatum: 1911
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Erscheinungsort: Berlin
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Das Zeitproblem.
Von Fritz Müller (Zürich).

Vor einiger Zeit hielt Professor Einstein in der Naturforschenden Gesellschaft Zürich einen Vortrag über die Relativität der Zeit.

Als er geendet hatte, ging eine Welle der Erregung über die Gelehrtenköpfe. Ein Denkfehler war aufgezeigt worden. Ein Denkfehler, der so alt war wie die Menschheit selbst. Hunderttausend Jahre lang haben uns die Scheinerfahrungen unserer Organe vorgetäuscht, es gäbe eine absolute Zeit im Weltenraume. Das Kind und der kritischste Gelehrte hatten daran geglaubt. Dieser Satz ist falsch. Einstein hat ihn, auf Vorarbeiten anderer Physiker fußend, zurechtgerückt und fand: Es gibt keine absolute Zeit. Die Zeit ist abhängig von der Bewegung im Raume.

Ich weiß, dieser Satz hat im ersten Moment ein gleichgültiges Gesicht. Den Laien läßt er kühl. So kühl, wie die „praktischen” Menschen die Galileientdeckung kühl gelassen hat, daß die Erde sich um die Sonne wälze, und nicht die Sonne um die Erde. Galilei war ein geistiger Revolutionär, als er eine optische Täuschung bloßlegte und die unerbittlichen Folgerungen zog, die das Weltbild für den Menschen neu erschufen. Einstein legte einen Denkfehler bloß in der Wertung des Zeitbegriffs. Und die Folgen für das Weltbild? Hier sind sie:

1. Es gibt keine starre Zeit. Die Zeit schrumpft zusammen mit der Bewegung im Raume.

2. Es gibt keine starren Körper. Ihre Formen fließen mit der Bewegung im Raume.

3. Raum und Zeit sind vertauschbar.

4. Es gibt keinen Aether.

Entscheidend für diese erstaunlichen Folgerungen ist das Relativitätsprinzip. Was ist Relativität? Die Tatsache, daß es nichts Absolutes im Weltall gibt. Jeder Zustand hängt von einem anderen ab. Geistig, philosophisch genommen, hat uns das ja schon lange eingeleuchtet. Sagen wir, einer sei reich in seiner Dorfgemeinde. Aber relativ zum städtischen Millionär ist er arm. Eine Minute ist eine Minute. Gewiß. Aber dem einen bedeutet sie ein blitzendes Königreich, dem anderen eine vergähnte Spanne Zeit. „Dös gibt's einfach net," hatte eine sehr hochstehende Persönlichkeit zu den englischen Ingenieuren gesagt, die auch in Oesterreich eine erste Eisenbahn bauen wollten, „daß 'was schneller fahrt als unsre Extrapost.“ Daß diese Schnelligkeit im Raum, daß die Zeit als Bewußtseinsinhalt relativ sei, ist ein „alter Schnee“. Aber der Physiker spannt den Begriff „relativ“ weiter.

Ich schaue von der Brücke ins fließende Wasser. Auf einmal ist mir, als bewege sich die Brücke mit mir über ruhendes Wasser mit der gleichen Schnelligkeit, wie mir vorher das Wasser selbst zu fließen schien. Ich sitze im Zuge und fahre an Wäldern vorbei. Aber die Anschauung und jetzt sogar die Sprache erlauben mir, mit dem gleichen Recht zu sagen, der Zug ruhe und Wälder zögen an mir vorbei. Hierbei ruht eins von zwei verglichenen Dingen. Wie, wenn sich beide bewegen? Ein Beispiel: Ueber einen Flußdamm hinweg sehe ich einen Mann auf einem langsam fahrenden Schiffe schreiten. Das Schiff selbst werde meinem Blick durch den Damm verdeckt. Geht der Mann auf dem Schiff in der Fahrtrichtung des Schiffes, so kommt's mir vor, als bewege er sich mit seiner Eigengeschwindigkeit plus der des Schiffes. Geht er gegen die Fahrtrichtung, so erscheint mir sein Ausschreiten verlangsamt um die Schiffsgeschwindigkeit. Ja, geht er ebenso rasch gegen die Fahrt wie diese selbst, so erkläre ich mit bestem Gewissen, der Mann ginge „vor Ort“, höbe und senke seine Füße sinnlos auf dem gleichen Fleck. Jemand außerhalb eines fahrenden Zuges werfe einen Ball mit der Zugrichtung schief in die Höhe – für mich im Coupé steigt der Ball senkrecht hinauf.

Auch diese geschilderte Relativität der Bewegung ist unserer Durchschnittsvorstellung schon geläufig geworden. Sie war es nicht immer. Sonst hätte man sich nicht so gegen die Einsicht gewehrt, daß die Erde sich um die Sonne bewege.

Ein Laboratorium ruhe irgendwo auf freiem Felde. Ein anderes in einem stillstehenden Eisenbahnzuge. In beiden befindet sich je ein Beobachter mit seinen Instrumenten. Solange nun die beiden Laboratorien zueinander in Ruhe sind, liefern selbstverständlich alle Experimente der beiden Physiker fortwährend dieselben Resultate. Und wenn der Zug mit dem einen Laboratorium sich in Bewegung befindet? Nun, auch dann bleiben die Naturgesetze, die ein jeder der beiden Physiker in seinem Laboratorium beobachtet, immer die gleichen. Sie können durch die Bewegung nicht beeinflußt werden. Diese einleuchtende Tatsache aber ist das Wesen des Relativitätsprinzips. Denn ohne dieses Prinzip lauteten die Naturgesetze in einem bewegten Raume anders als in einem ruhenden.

Ich nehme nun weiter an, es wäre gelungen, die Uhren in beiden Laboratorien, solange sie ruhten, genau aufeinander abzustimmen: sie gingen völlig gleichzeitig, synchron. Was tritt nun ein, wenn sich das eine Laboratorium im Eisenbahnzuge in gleichförmige Bewegung setzte? Etwas auf den ersten Blick ganz Erstaunliches: die Uhren gingen nicht mehr gleich. Der ruhende Physiker würde dem fahrenden vorwerfen, dessen Uhren gingen nach. Dasselbe behauptet der im fahrenden Laboratorium von den Uhren seines Kollegen. Man verstehe recht: die Tatsache, daß das bewegte Laboratorium sich, sagen wir, nach zehn Sekunden an einem anderen Orte befindet, ändert nichts an der Zeit da und dort. Aber die Fortbewegung als solche, fand Einstein, verändert die Raschheit des Ablauf aller Vorgänge auf dem bewegten Körper, beurteilt vom ruhenden Körper. Die Sekunde auf der bewegten Uhr ist, vom ruhenden Beobachter aus betrachtet, länger als seine eigene Sekunde, so daß die bewegte Uhr langsamer läuft. Um so langsamer geht sie, je schneller sie fortbewegt wird.

Wie kam Einstein zu diesem seltsamen Resultat? Dazu bedarf es eines kurzen Ausfluges in das Gebiet der Optik:

Manches in der Welt scheint so kompliziert und ist so einfach, wenn wir ihm auf den Grund gehen. Das meiste aber scheint einfach und zerlegt sich in Rätsel, wenn wir's scharf ins Auge fassen. So das, was wir „Zeit“ nennen. Jeder glaubt's zu kennen, und keiner kennt's. Angenommen, ich lehne an der Wand meines Studierzimmers. Drüben an der Gegenwand löst sich ein Steinchen von der Mauer. Wann war das Ereignis fragt man mich. Wann? Nichts einfacher als das. Ich habe den besten Chronometer und kann's auf ein Sekundenteilchen angeben. Um 3 Uhr 6 Minuten 7,69 Sekunden, sage ich. Hm – aber halt, war das wirklich die Zeit des Ereignisses selbst? Offenbar nein. Gewiß, wahrgenommen habe ich's zu dieser Zeit und meiner Wahrnehmung die entsprechende Zeigerstellung meiner Uhr zugeordnet. Aber das Ereignis selbst hat früher stattgefunden. Wann? Richtig, um die Zeit früher, die das Licht vom Steinchen brauchte, um zu mir, zu meiner Wahrnehmung zu gelangen. Sicher ist das eine minimale Zeit. Aber wissenschaftlich gib's kein Wenig und kein Viel, sondern nur ein Etwas oder ein Nichts. Also, wie lang war das Licht vom Steinchen zu mir unterwegs? Warten Sie, das haben wir ja schon in der Schule gelernt: 300 000 Kilometer macht das Licht in einer Stunde. Das bedeutet für meinen Fall . . . und mein Rechenstift fliegt. Plötzlich bekomme ich einen Schreck: Ist denn die Geschwindigkeit des Lichts immer die gleiche? Das weiß ich auch noch vor der Schule, daß der Aether als Träger des Lichts ewig ruht im Weltall, daß bewegte Dinge ihn nicht mitreißen können, daß Licht gegen Wind und Wasser ebenso schnell geht wie mit Wind und Wasser. Gut. Aber dem oben geschilderten Gesetz von der Bewegungsrelativität muß das Licht doch auch unterworfen sein? Gewiß. Also, wenn die Erde im Moment des Geschehnisses in der Richtung vom fallenden Steinchen zu mir her sich bewegte im Weltenraume? So kam der Lichtstrahl vom fallenden Steinchen um diese Erdenschnelligkeit später, also langsamer zu mir, der ich ja mit der Erde währenddem weiterrückte. Schön. Setzen wir also auch noch diesen Betrag in die Rechnung. Aber da erhebt sich das letzte Fragezeichen und spottet aller Mühen seiner Lösung: Wie rasch bewegt sich die Erde im Weltenraume? Um die Sonne, ja, das weiß ich. Aber die Sonne bewegt sich ja mit der Erde um einen anderen Zentralkörper, und dieser vielleicht wieder . . . Mir schwindelt, und ich erkenne: Da ich die absolute Bewegung der Erde im Weltenraume nicht kenne, werde ich auch nicht erfahren können . . . Nun was? Wann das Steinchen an der Wand da drüben abgebröselt ist. Man sieht schon: Die Zeit ist nicht eindeutig. Schwierigkeit auf Schwierigkeit türmt sich gegen die scheinbar so simple Frage nach der Gleichzeitigkeit von Ereignissen, die an zwei verschiedenen Orten stattfinden. Daß uns freilich die Relativität des Geschehens praktisch nicht zum Bewußtsein kommt, ist ja richtig. Die kolossale Schnelligkeit des Lichts gegenüber allen anderen Erdgeschwindigkeiten ist schuld daran.

In diese Bresche nun rückten die Physiker mit neuen ingeniösen Experimenten ein. Vergebens. Es ließ sich nirgends die Spur des relativen Einflusses der Erdbewegung auf die Geschwindigkeit des Lichts feststellen. Die optischen Vorgänge erwiesen sich als völlig unabhängig von jeder Erdbewegung. Also, so schloß man zwingend, ist das Licht konstant. Hat stetsfort die gleiche Geschwindigkeit, gleichviel, ob die Lichtquelle auf den Beschauer zu- oder von ihm fortbewegt wird, und natürlich auch umgekehrt, ob der Beschauer sich gegenüber der Lichtquelle bewegt oder still steht.

Aber diese Konstanz des Lichtes bedeutete ja einen eklatanten Widerspruch gegen die Bewegungsrelativität? Allerdings. Die Ueberraschung und die Verlegenheit unter den Physikern waren groß, als sich dieser unlösbare Widerspruch zwischen dem Relativitätsprinzip der Bewegung und der Lichtkonstanz gähnend auftat. “Da waren wir nun wieder die Lackierten,” bemerkte der Vortragende mit jenem gemütlichen Entdeckerhumor, der sich nach glücklichen Lösungen einzustellen pflegt. Als sich die Forschung jahrelang vergeblich mit Lösungsversuchen gequält hatte, landete man zuletzt an der gewaltsamen Erklärung: die bewegten Gegenstände werden vom anprallenden Aether zusammengedrückt. Dadurch verkürzen sie sich gerade um so viel in der Richtung ihrer Bahn, daß der ihnen nacheilende Lichtstrahl keinen größeren Weg zurückzulegen braucht, als wenn sich die bewegten Gegenstände nicht von der Lichtquelle fortbewegt hätten, sondern still gestanden wären. Und darum bliebe die Lichtgeschwindigkeit immer konstant.

Also der Aether, dieses hypothetische Verlegenheitskind der Physik, war wieder einmal schuld. Dieser Aether, der ein Körper ohne Gewicht sein sollte, der alle anderen Körper widerstandslos durchdrang, bekam plötzlich die Fähigkeit, starre Körper zusammenzudrücken. Einstein beruhigte sich nicht dabei. Gewiß, der Aether hatte unschätzbare Dienste geleistet zur Erforschung der optischen Gesetze. Aber schon seitdem in der elektrischen Lichttheorie der Aether als mechanisches Uebertragungsmittel in den Hintergrund trat, lag der frühe Schluß nahe: Wie, wenn es keinen Aether gäbe, wenn die gewaltsame Kontraktion fliehender Körper durch den Aether nur scheinbar wäre? Freilich war dann der Aether von seiner letzten Zufluchtsstatt vertrieben.

Hier bohrte sich Einsteins beharrliches Nachdenken ein. Tag um Tag klopfte sein Warum an dasselbe Rätseltor. Er fühlte: hier verbarg sich ein fundamentales Gesetz. Hier dehnten sich die Grenzen menschlicher Erkenntnis in ein neues Land. Aber die Natur blieb stumm. Sie gab keine Antwort. Dennoch ging der Forscher in konzentrischen Kreisen dem Problem auf den Leib. Unablässig stellte er die gleiche Frage an den Verstand. An den Verstand, nicht an das Experiment. Denn das Experiment hatte ja schon gesprochen und den Widerspruch aufgedeckt. Die Rettung lag beim Verstand. Die Zähigkeit des jahrelangen Ringens um die Erleuchtung erklärte mir der Forscher mit der magischen Anziehungskraft, die das Problem auf jeden ausübt, der sich mit ihm beschäftigt. Es läßt nicht mehr los. Endlich aber ermattete er und sagte eines Nachmittags zu seinem Freunde, er wolle es aufgeben. Da – am anderen Morgen, als die ungeheure jahrelange Spannung von ihm wich – ergab sich ihm das Rätsel in einem einzigen Lichtblick: die Fehlerquelle lag nicht außen im Raum, sie lag in unserem Denken. Der uralte Fehler, als gäbe es eine absolute Zeit, lag bloß. Die Zeit ist relativ. Sie ist eine andere für den ruhenden, eine andere relativ zu dem bewegten Körper. Der Lichtstrahl, der dem bewegten Körper nacheilt, tritt auf diesem Körper in ein anderes Zeitreich ein. Die Zeit, die der Ruhende auf dem bewegten Körper beobachten könnte, geht gegenüber seiner eigenen Zeit genau um so viel nach, als nötig ist, um den Widerspruch zwischen Konstanz des Lichtes und Relativität der Bewegung auszugleichen. Damit aber ist der Aether endgültig entthront. Wir brauchen ihn nicht mehr. Er hat seine Schuldigkeit getan.

Freilich, daß und um welchen Betrag die Zeit auf dem bewegten Körper nachgeht, erschließt sich der menschlichen Anschauung noch nicht direkt, noch nicht a priori. Auch für Einstein nicht. Sondern erst auf dem Umwege über die in das neue Erkenntnisgebiet vorgeschobenen mathematischen Gleichungen. Diese freilich sind unerbittlich. An einem Grenzfall habe ich vorzufühlen gesucht, daß eine von uns weg ins Weltall geschleuderte Uhr für uns nachgehen muß:

Zwei gleichgehende Uhren sollen je einen Beobachter haben und nebeneinander ruhen. Nun soll die eine mit ihrem Beobachter plötzlich mit Lichtgeschwindigkeit in den Weltenraum hinausreisen. Vorher haben die beiden vereinbart, sich alle Sekunden mit einem Lichtsignal die Zeit zu telegraphieren. Ein anderes Mittel, um sich über die Gleichzeitigkeit zweier Ereignisse an verschiedenen Orten zu verständigen, ein anderes Mittel als das Licht gibt es für Menschen nicht. Halten wir ferner fest: das Kriterium für die Gleichzeitigkeit ist, daß der Lichtstrahl hin so lange unterwegs ist wie zurück. Ist er das bei den zwei Uhren, wenn sie zueinander ruhen? Offenbar ja. Und wenn die eine Uhr mit Lichtgeschwindigkeit unterwegs ist? Offenbar nein. Denn der ruhende Beobachter erhielte zwar in regelmäßigen Sekundenabständen das verabredete Lichtsignal von dem anderen. Dieser aber niemals von dem ersteren. Wann immer nämlich der ruhende Beobachter seine Zeit dem fliegenden signalisieren wollte, ob im Bruchteil einer Sekunde nach der Abreise, ob eine, zwei, drei Sekunden nachher – es gelänge ihm niemals, vergeblich wartete der andere auf das Signal. Das Signal hinter dem Fliegenden her holte eben den mit der gleichen Geschwindigkeit wie das Signal Reisenden in alle Ewigkeit nicht ein. Also das Kriterium stimmt nicht. Die Uhren differierten nach einer, nach zwei, nach drei Sekunden um eine, zwei, drei Sekunden. Das bedeutet aber im Urteil des ruhenden Beobachters, daß die Zeit auf der fliegenden Uhr um ebensoviel nachgeht. In unserem Grenzfall, wo die Reise mit Lichtgeschwindigkeit vor sich geht, müßte der ruhende Beobachter erklären, jene andere Uhr käme in der Zeit überhaupt nicht voran. Die Zeit stünde dort still. Tatsächlich kommen die Einsteinschen Gleichungen zu diesem Resultat. Für den mit der Uhr reisenden Beobachter, sagt Einstein, gelte dasselbe. Das heißt, im Urteil des Zurückbleibenden würde jener niemals alt. „Und wenn er auf einer gebrochenen Reiselinie wieder an seinen Ausgangspunkt zurückkehrte?" fragt man den Vortragenden in der Diskussion. – „So bliebe er in unserem Urteil so jung wie bei der Ausreise," erwidert Einstein mit vollem Ernst, „selbst wenn wir Zurückgebliebenen inzwischen Männer mit weißen Bärten geworden sind – die Gleichungen liefern für jede Richtung der Bewegung, auch für eine gebrochene Bewegung, unerschütterlich die selben Resultate." – Wir sehen einander an. Das klingt märchenhaft. Märchenhaft? Gewiß, die alten Märchen vom Mönch von Heisterbach, vom Rip van Winkle, von Urashima Taro steigen auf. Merkwürdig, wie die Volksphantasie bei den Deutschen, bei den Amerikanern, bei den Japanern in der gleichen Richtung gearbeitet hat – alle drei Märchen erzählen ja von Leuten, deren Leben still steht, viele hundert Jahre lang, während die andern altern. So fanden sie bei ihrer Rückkehr ein anderes Land und eine andere Generation.

„Und wenn wir uns nun gar vorstellen," wendet ein anderer ein, „es gäbe irgendeine Wirkung, die sich mit Ueberlichtgeschwindigkeit, sagen wir, längs eines Bandes fortpflanzte?“ – „So müßte es möglich sein,“ erwidert der Vortragende, „einen Mechanismus zu ersinnen, mittels dessen man in die Vergangenheit wirken kann." – „Und daraus folgt?“ - „Lediglich, daß diese Vorstellung für uns einen so erfahrungswidrigen Charakter trägt, daß wir sie bis zum Beweis des Gegenteils abzulehnen haben. Wir müssen also annehmen, auf Grund unserer bisherigen Erfahrung annehmen, daß eine Ueberlichtgeschwindigkeit unmöglich, daß sie sinnlos sei." – Wieder taucht bei den Hörern eine Erinnerung auf. Die Erinnerung an den merkwürdigen Roman „Die Zeitmaschine“ des Engländers Wells, der vor einem Dutzend Jahren seinen Ingenieurhelden eine Maschine konstruieren ließ, mittels der er sich in die Vergangenheit zurückversetzen konnte. In einer merkwürdigen Vorahnung kommender Forschung spricht jener Dichter von der Zeit als einer vierten Dimension, die den uns geläufigen drei Dimensionen des Raumes gleichwertig, ja mit ihnen vertauschbar sei. Kommt doch der Mathematiker Minkowski, auf Einstein aufbauend, auch zu dem Ergebnis, das physikalische Geschehen werde dargestellt in einem vierdimensionalen Raume, in dem die Zeit die gleiche Rolle spielt wie die drei körperlichen Dimensionen. Und weiter schließt Minkowski: „Von Stunde an sollen Raum für sich und Zeit für sich völlig zu Schatten herabsinken, und nur noch eine Art Union von ihnen soll Selbständigkeit bewahren, denn niemand hat einen Ort anders bemerkt als zu einer Zeit, eine Zeit anders als an einem Ort.“ Und die Zeit? Sie kann ganz oder zum Teil ersetzt werden, ausgelöscht werden durch die Bewegung. Das, was wir Zeit nennen, wird durch eine Bewegung, die mit Lichtgeschwindigkeit vor sich geht, völlig kompensiert. Ein mit Lichtgeschwindigkeit im Raume reisender Körper wird, von uns aus betrachtet, ewig zeitlos sein. Also, Raum ist Zeit, und Zeit ist Raum. Um es handfest auszudrücken: Die Bewegung frißt die Zeit.

Auch auf Formen der starren Körper, die bewegt werden, greifen die Einsteinschen Gleichungen über und tun zwingend dar, daß es keine starren Formen gibt. Sie verändern sich bei der Bewegung der sogenannten starren Körper für den ruhenden Beobachter. Ich gestehe, das klingt für unsere Erfahrung ungeheuerlich. Aber vielleicht doch nicht ungeheuerlicher, als vor einem halben Jahrtausend Galileis Behauptung, daß eine Kirchturmspitze kein fester Punkt im Raume sei, sondern wegen der Bewegung der Erde um sich selbst und um die Sonne, innerhalb vierundzwanzig Stunden im Sonnensystem eine Spirale beschreibe. Heute ist ein Schulkind damit vertraut. Auch anschaulich. Die Vorstellbarkeit dafür aber versagte noch zu Galileis Zeiten. Zuerst mußten die unanfechtbaren Ergebnisse der mathematischen Formeln den Vorstoß machen. Zuerst mußten Millionen nachprüfender Gehirne, begeistert oder sträubend, immer wieder bekennen: „Ja, kein Zweifel, es ist so, es muß so sein. Dann erst folgte, langsam im menschlichen Gehirn sich neu bildend, die Vorstellbarkeit. Heute hat diesen Galileischen Jahresring menschlicher Erkenntniß jedes Durchschnittsgehirn fest angesetzt. Also: die Anschaulichkeit allein wäre ein schlechter Maßstab für den Wert einer neuen Theorie. Erklärt doch Einstein selbst, er habe Wochen gebraucht, bis ihm seine Resultate nicht mehr widersinnig vorgekommen seien.

Das gilt auch für den Einsteinschen Satz: Bewegte Körper schrumpfen für den ruhenden Beobachter zusammen. Die Gleichungen drängen den Satz zwingend auf – die gefrorene Erfahrung lehnt ihn entrüstet ab. Versuchen wir einen vermittelnden Weg der Anschauung wieder bei einem Grenzfall – vielleicht daß die vereiste Erfahrung zu tauen beginnt:

Ein starrer Stab ruhe vor mir. Ich messe ihn. Seine Länge geht von A bis B, also so: A — B. Nun bewege sich der Stab sehr rasch, aber gleichmäßig von mir fort längs einer Bahn, die dicht mit Beobachtern besetzt ist. Diese Beobachter sollen (theoretisch) genau gleichgehende Uhren besitzen. Ich gebe die Weisung aus: “Punkt drei Uhr kommen der Stabanfang und das Stabende bei je einem Beobachter vorbei. Markiert blitzschnell diese beiden Punkte auf der Flugbahnstrecke, die der vorbeifliegende Stab zurücklegt!” Die Weisung werde ausgeführt. Ich messe den Abstand der beiden Markierungskerben in Ruhe nach und finde: die Länge des bewegten Stabes war zur Messungszeit nicht mehr =AB. Sie hat sich für mich verkürzt gegenüber der Länge des ruhenden Stabes. In welchem Maße? Gesetzt den Fall, der Stab flöge mit Lichtgeschwindigkeit, also 300 000 Kilometer pro Sekunde, an mir vorbei und vor mir her, so müßte seine Länge auf einen Punkt, also =0 zusammenschrumpfen. Denn glitte mein Blick ihm nach, ich könnte, während er mein Gesichtsfeld passiert und weiterhin, gerade noch, sagen wir, den Punkt A erreichen und festhalten, weil der Lichtstrahl aus meinem Auge ebenso schnell den Raum durchdringt, wie der Stab fliegt. Ewig erfolglos bemühte sich mein Blick, den Stab entlang zu anderen Punkten zu gleiten. Solange der Stab fliegt, ist er für mich auf einen Punkt zusammengeschrumpft. Offenbar läge so die beobachtete Länge des mit geringerer als Lichtgeschwindigkeit vorbeifliegenden Stabes zwischen einem Punkt und der Länge des ruhenden Stabes. Käme der Stab plötzlich zum Stillstand, er hätte wieder seine alte Länge AB. Für Ueberlichtgeschwindigkeiten schwänden Körper nicht nur zu flächenhaften Gebilden – sie verschwänden überhaupt aller Wahrnehmung. Die Ruhenden würden sie als nicht mehr vorhanden erklären. Oder, man könnte es auch so ausdrücken: sie würden die Dimension, die in ihrer Flugrichtung liegt, in eine uns unzugängliche Dimension hinausbauchen. Da dies außer der bisherigen Erfahrung läge, müssen wir also wieder annehmen, eine größere als die Lichtgeschwindigkeit ist undenkbar.

Ich resümiere: die Formen der von uns beobachteten Körper sind nicht starr, sondern schrumpfen und schwellen für den Beobachter mit ihrer Bewegung im Raume.

Freilich, praktisch in die Erscheinung tritt für uns dieser Formenfluß nicht. Unsere Erdgeschwindigkeiten sind zu klein dazu. Selbst die Geschwindigkeit von dreißig Kilometern pro Sekunde, womit die Erde um die Sonne schwingt, vermöchte die Erddicke für den außerhalb der Erde ruhenden Beobachter nur um sechseinhalb Zentimeter zu verkürzen. Um den gleichen Betrag haben wir bisher die Dimensionen unserer Erde, soweit wir sie an den Fixsternen maßen, zu kurz verbucht.

Dennoch ist ein nachprüfendes Experiment des Einsteinschen Satzes von der Relativität der Zeit innerhalb menschlicher Reichweite. Dies zur Beruhigung für jene, die mit der Logik allein nicht zufrieden sind, sondern denen erst das physikalische Experiment Gewißheit verschafft. Einstein teilte mit, daß die Kanalstrahlen (in Glasröhren rasch bewegte Moleküle), deren Schwingungen eine wunderbare astronomische Uhr darstellen, die Handhabe dazu bieten. In der allerletzten Zeit haben die Versuche von Bucherer und Hupka das Einsteinsche Relativitätsprinzip auch praktisch erwiesen.

Die Theorie führt ferner zu dem wichtigen Satz, daß die Masse eines Körpers von dessen Energieinhalt abhängig ist, allerdings in so geringem Maße, daß es ein Experiment wohl nie wird nachweisen können. Hierdurch wird der Satz von der Erhaltung der Materie umgestoßen oder, besser gesagt, mit dem Satz von der Erhaltung der Energie in einen einzigen verschmolzen. Nimmt die einem Körper mitgeteilte Kraft um zu, so nimmt die Masse um zu, wobei die Lichtgeschwindigkeit bedeutet.

Noch ein Wort: Ob für diese Forschungen ein Platz in der dem großen Publikum zugänglichen Presse sein soll? Ich glaube ja. Die Mitwirkung der gebildeten Laien für das kritische Nachdenken neuer Entdeckungen ist wertvoll, ja unschätzbar. Forscher ohne Dünkel wissen das. Ohne die breiten Laienmassen wird kein Forschungsergebnis lebendig. Es stürbe ab. Es setzte keine Ringe an am Baume menschlicher Erkenntnis. Zu oft wird dem Berufsgelehrten eine neue Aussicht und Einsicht durch vorgefaßte Theorien verlegt. Der Laie ist nicht beschwert damit. Einstein bekannte mir: „Als ich die langen Jahre über dem Zeitproblem grübelte, war mir der Bücherpfeiler der einschlägigen optischen Literatur darüber nur wenig bekannt. Das war mein Glück. Ich hätte mich sonst kaum aus den vorgefahrenen Rinnen gelöst.”