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vom fallenden Steinchen um diese Erdenschnelligkeit später, also langsamer zu mir, der ich ja mit der Erde währenddem weiterrückte. Schön. Setzen wir also auch noch diesen Betrag in die Rechnung. Aber da erhebt sich das letzte Fragezeichen und spottet aller Mühen seiner Lösung: Wie rasch bewegt sich die Erde im Weltenraume? Um die Sonne, ja, das weiß ich. Aber die Sonne bewegt sich ja mit der Erde um einen anderen Zentralkörper, und dieser vielleicht wieder . . . Mir schwindelt, und ich erkenne: Da ich die absolute Bewegung der Erde im Weltenraume nicht kenne, werde ich auch nicht erfahren können . . . Nun was? Wann das Steinchen an der Wand da drüben abgebröselt ist. Man sieht schon: Die Zeit ist nicht eindeutig. Schwierigkeit auf Schwierigkeit türmt sich gegen die scheinbar so simple Frage nach der Gleichzeitigkeit von Ereignissen, die an zwei verschiedenen Orten stattfinden. Daß uns freilich die Relativität des Geschehens praktisch nicht zum Bewußtsein kommt, ist ja richtig. Die kolossale Schnelligkeit des Lichts gegenüber allen anderen Erdgeschwindigkeiten ist schuld daran.

In diese Bresche nun rückten die Physiker mit neuen ingeniösen Experimenten ein. Vergebens. Es ließ sich nirgends die Spur des relativen Einflusses der Erdbewegung auf die Geschwindigkeit des Lichts feststellen. Die optischen Vorgänge erwiesen sich als völlig unabhängig von jeder Erdbewegung. Also, so schloß man zwingend, ist das Licht konstant. Hat stetsfort die gleiche Geschwindigkeit, gleichviel, ob die Lichtquelle auf den Beschauer zu- oder von ihm fortbewegt wird, und natürlich auch umgekehrt, ob der Beschauer sich gegenüber der Lichtquelle bewegt oder still steht.

Aber diese Konstanz des Lichtes bedeutete ja einen eklatanten Widerspruch gegen die Bewegungsrelativität? Allerdings. Die Ueberraschung und die Verlegenheit unter den Physikern waren groß, als sich dieser unlösbare Widerspruch zwischen dem Relativitätsprinzip der Bewegung und der Lichtkonstanz gähnend auftat. “Da waren wir nun wieder die Lackierten,” bemerkte der Vortragende mit jenem gemütlichen Entdeckerhumor, der sich nach glücklichen Lösungen einzustellen pflegt. Als sich die Forschung jahrelang vergeblich mit Lösungsversuchen gequält hatte, landete man zuletzt an der gewaltsamen Erklärung: die bewegten Gegenstände werden vom anprallenden Aether zusammengedrückt. Dadurch verkürzen sie sich gerade um so viel in der Richtung ihrer Bahn, daß der ihnen nacheilende Lichtstrahl keinen größeren Weg zurückzulegen braucht, als wenn sich die bewegten Gegenstände nicht von der Lichtquelle fortbewegt hätten, sondern still gestanden wären. Und darum bliebe die Lichtgeschwindigkeit immer konstant.

Also der Aether, dieses hypothetische Verlegenheitskind der Physik, war wieder einmal schuld. Dieser Aether, der ein Körper ohne Gewicht sein sollte, der alle anderen Körper widerstandslos durchdrang, bekam plötzlich die Fähigkeit, starre Körper zusammenzudrücken. Einstein beruhigte sich nicht dabei. Gewiß, der Aether hatte unschätzbare Dienste geleistet zur Erforschung der optischen Gesetze. Aber schon seitdem in der elektrischen Lichttheorie der Aether als mechanisches Uebertragungsmittel in den Hintergrund trat, lag der frühe Schluß nahe: Wie, wenn es keinen Aether gäbe, wenn die gewaltsame Kontraktion fliehender Körper durch den Aether nur scheinbar wäre? Freilich war dann der Aether von seiner letzten Zufluchtsstatt vertrieben.

Hier bohrte sich Einsteins beharrliches Nachdenken ein. Tag um Tag klopfte sein Warum an dasselbe Rätseltor. Er fühlte: hier verbarg sich ein fundamentales Gesetz. Hier dehnten sich die Grenzen menschlicher Erkenntnis in ein neues Land. Aber die Natur blieb stumm. Sie gab keine Antwort. Dennoch ging der Forscher in konzentrischen Kreisen dem Problem auf den Leib. Unablässig stellte er die gleiche Frage an den Verstand. An den Verstand, nicht an das Experiment. Denn das Experiment hatte ja schon gesprochen und den Widerspruch aufgedeckt. Die Rettung lag beim Verstand. Die Zähigkeit des jahrelangen Ringens um die Erleuchtung erklärte mir der Forscher mit der

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Fritz Müller-Partenkirchen: Das Zeitproblem. , Berlin 1911, Seite 1 (Spalte 3). Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Zeitproblem_(1911).djvu/3&oldid=- (Version vom 9.1.2024)