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Das Zeitproblem.
Von Fritz Müller (Zürich).

Vor einiger Zeit hielt Professor Einstein in der Naturforschenden Gesellschaft Zürich einen Vortrag über die Relativität der Zeit.

Als er geendet hatte, ging eine Welle der Erregung über die Gelehrtenköpfe. Ein Denkfehler war aufgezeigt worden. Ein Denkfehler, der so alt war wie die Menschheit selbst. Hunderttausend Jahre lang haben uns die Scheinerfahrungen unserer Organe vorgetäuscht, es gäbe eine absolute Zeit im Weltenraume. Das Kind und der kritischste Gelehrte hatten daran geglaubt. Dieser Satz ist falsch. Einstein hat ihn, auf Vorarbeiten anderer Physiker fußend, zurechtgerückt und fand: Es gibt keine absolute Zeit. Die Zeit ist abhängig von der Bewegung im Raume.

Ich weiß, dieser Satz hat im ersten Moment ein gleichgültiges Gesicht. Den Laien läßt er kühl. So kühl, wie die „praktischen” Menschen die Galileientdeckung kühl gelassen hat, daß die Erde sich um die Sonne wälze, und nicht die Sonne um die Erde. Galilei war ein geistiger Revolutionär, als er eine optische Täuschung bloßlegte und die unerbittlichen Folgerungen zog, die das Weltbild für den Menschen neu erschufen. Einstein legte einen Denkfehler bloß in der Wertung des Zeitbegriffs. Und die Folgen für das Weltbild? Hier sind sie:

1. Es gibt keine starre Zeit. Die Zeit schrumpft zusammen mit der Bewegung im Raume.

2. Es gibt keine starren Körper. Ihre Formen fließen mit der Bewegung im Raume.

3. Raum und Zeit sind vertauschbar.

4. Es gibt keinen Aether.

Entscheidend für diese erstaunlichen Folgerungen ist das Relativitätsprinzip. Was ist Relativität? Die Tatsache, daß es nichts Absolutes im Weltall gibt. Jeder Zustand hängt von einem anderen ab. Geistig, philosophisch genommen, hat uns das ja schon lange eingeleuchtet. Sagen wir, einer sei reich in seiner Dorfgemeinde. Aber relativ zum städtischen Millionär ist er arm. Eine Minute ist eine Minute. Gewiß. Aber dem einen bedeutet sie ein blitzendes Königreich, dem anderen eine vergähnte Spanne Zeit. „Dös gibt's einfach net," hatte eine sehr hochstehende Persönlichkeit zu den englischen Ingenieuren gesagt, die auch in Oesterreich eine erste Eisenbahn bauen wollten, „daß 'was schneller fahrt als unsre Extrapost.“ Daß diese Schnelligkeit im Raum, daß die Zeit als Bewußtseinsinhalt relativ sei, ist ein „alter Schnee“. Aber der Physiker spannt den Begriff „relativ“ weiter.

Ich schaue von der Brücke ins fließende Wasser. Auf einmal ist mir, als bewege sich die Brücke mit mir über ruhendes Wasser mit der gleichen Schnelligkeit, wie mir vorher das Wasser selbst zu fließen schien. Ich sitze im Zuge und fahre an Wäldern vorbei. Aber die Anschauung und jetzt sogar die Sprache erlauben mir, mit dem gleichen Recht zu sagen, der Zug ruhe und Wälder zögen an mir vorbei. Hierbei ruht eins von zwei verglichenen Dingen. Wie, wenn sich beide bewegen? Ein Beispiel: Ueber einen Flußdamm hinweg sehe ich einen Mann auf einem langsam fahrenden Schiffe schreiten. Das Schiff selbst werde meinem Blick durch den Damm verdeckt. Geht der Mann auf dem Schiff in der Fahrtrichtung des Schiffes, so kommt's mir vor, als bewege er sich mit seiner Eigengeschwindigkeit plus der des Schiffes. Geht er gegen die Fahrtrichtung, so erscheint mir sein Ausschreiten verlangsamt um die Schiffsgeschwindigkeit. Ja, geht er ebenso rasch gegen die Fahrt wie diese selbst, so erkläre ich mit bestem Gewissen, der Mann ginge „vor Ort“, höbe und senke seine Füße sinnlos auf dem gleichen Fleck. Jemand außerhalb eines fahrenden Zuges werfe einen Ball mit der Zugrichtung schief in die Höhe – für mich im Coupé steigt der Ball senkrecht hinauf.

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Fritz Müller-Partenkirchen: Das Zeitproblem. , Berlin 1911, Seite 1 (Spalte 1). Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Zeitproblem_(1911).djvu/1&oldid=- (Version vom 9.1.2024)