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Manchmal steht einer auf beim Abendbrot
und geht hinaus und geht und geht und geht, –
weil eine Kirche wo im Osten steht.

Und seine Kinder segnen ihn wie tot.

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Und einer, welcher stirbt in seinem Haus,

bleibt drinnen wohnen, bleibt in Tisch und Glas,
so daß die Kinder in die Welt hinaus
zu jener Kirche ziehn, die er vergaß.


Nachtwächter ist der Wahnsinn,
weil er wacht.
Bei jeder Stunde bleibt er lachend stehn,
und einen Namen sucht er für die Nacht

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und nennt sie: sieben, achtundzwanzig, zehn ...

Und ein Triangel trägt er in der Hand,
und weil er zittert, schlägt es an den Rand
des Horns, das er nicht blasen kann, und singt
das Lied, das er zu allen Häusern bringt.

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Die Kinder haben eine gute Nacht

und hören träumend, daß der Wahnsinn wacht.
Die Hunde aber reißen sich vom Ring
und gehen in den Häusern groß umher
und zittern, wenn er schon vorüberging,

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und fürchten sich vor seiner Wiederkehr.


Weißt du von jenen Heiligen, mein Herr?

Sie fühlen auch verschloßne Klosterstuben
zu nahe an Gelächter und Geplärr,
so daß sie tief sich in die Erde gruben.

Empfohlene Zitierweise:
Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch. Leipzig: Insel-Verlag. 1918, Seite 67. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Stundenbuch_(Rilke)_067.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)