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Ein großer Ernst bricht über mich herein.
In seinem Schatten ist das Leben kühl.

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Ich bin zum erstenmal mit dir allein,

du, mein Gefühl.
Du bist so mädchenhaft.

Es war ein Weib in meiner Nachbarschaft
und winkte mir aus welkenden Gewändern.

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Du aber sprichst mir von so fernen Ländern.

Und meine Kraft
schaut nach den Hügelrändern.


Ich habe Hymnen, die ich schweige.
Es gibt ein Aufgerichtetsein,
darin ich meine Sinne neige:
du siehst mich groß, und ich bin klein.

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Du kannst mich dunkel unterscheiden

von jenen Dingen, welche knien;
sie sind wie Herden, und sie weiden,
ich bin der Hirt am Hang der Heiden,
vor welchem sie zu Abend ziehn.

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Dann komm ich hinter ihnen her

und höre dumpf die dunklen Brücken,
und in dem Rauch von ihren Rücken
verbirgt sich meine Wiederkehr.


Gott, wie begreif ich deine Stunde,
als du, daß sie im Raum sich runde,
die Stimme vor dich hingestellt;
dir war das Nichts wie eine Wunde,

5
da kühltest du sie mit der Welt.
Empfohlene Zitierweise:
Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch. Leipzig: Insel-Verlag. 1918, Seite 29. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Stundenbuch_(Rilke)_029.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)