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Er hätte vielleicht
sich schon gerne, mit Früchten gefüllt, verfrüht,

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doch er wurde mitten im Blühen müd,

und er wird keine Früchte haben.

Nur der Frühling Gottes war dort,
nur sein Sohn, das Wort,
vollendete sich.

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Es wendete sich

alle Kraft zu dem strahlenden Knaben.
Alle kamen mit Gaben
zu ihm;
alle sangen wie Cherubim

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seinen Preis.


Und er duftete leis
als Rose der Rosen.
Er war ein Kreis
um die Heimatlosen.

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Er ging in Mänteln und Metamorphosen

durch alle steigenden Stimmen der Zeit.


Da ward auch die zur Frucht Erweckte,
die schüchterne und schönerschreckte,
die heimgesuchte Magd geliebt.
Die Blühende, die Unentdeckte,

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in der es hundert Wege gibt.


Da ließen sie sie gehn und schweben
und treiben mit dem jungen Jahr;
ihr dienendes Marien-Leben
ward königlich und wunderbar.

Empfohlene Zitierweise:
Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch. Leipzig: Insel-Verlag. 1918, Seite 23. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Stundenbuch_(Rilke)_023.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)