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Und ich seh: meine Sinne
bilden und baun
die letzten Zierate.


Daraus, daß einer dich einmal gewollt hat,
weiß ich, daß wir dich wollen dürfen.
Wenn wir auch alle Tiefen verwürfen:
wenn ein Gebirge Gold hat

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und keiner mehr es ergraben mag,

trägt es einmal der Fluß zutag,
der in die Stille der Steine greift,
der vollen.

Auch wenn wir nicht wollen:

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Gott reift.


Wer seines Lebens viele Widersinne
versöhnt und dankbar in ein Sinnbild faßt,
der drängt
die Lärmenden aus dem Palast,

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wird anders festlich, und du bist der Gast,

den er an sanften Abenden empfängt.

Du bist der zweite seiner Einsamkeit,
die ruhige Mitte seinen Monologen;
und jeder Kreis, um dich gezogen,

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spannt ihm den Zirkel aus der Zeit.


Was irren meine Hände in den Pinseln?
Wenn ich dich male, Gott, du merkst es kaum.

Empfohlene Zitierweise:
Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch. Leipzig: Insel-Verlag. 1918, Seite 15. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Stundenbuch_(Rilke)_015.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)