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Sagte er gar nichts, sondern lief er nur schnell wieder die Treppe hinunter.“

„Merkwürdig!“ murmelte Dreßler vor sich hin. „Der Fall Durgassow wird immer verwickelter. Warnt mich doch hier ein Unbekannter vor Jakob Wenzel, der meines Vertrauens nicht würdig sei. – Die Handschrift ist recht gut verstellt. Jedenfalls will ich den Brief mitnehmen. In der Bahn habe ich genügend Zeit zu untersuchen, ob ein Mann oder eine Frau ihn verfaßt hat. Sicherlich aber rühren diese verlaufenen Stellen hier von Wassertropfen her, – vielleicht gar von Tränen! – Merkwürdig, wirklich merkwürdig!“

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Als der kleine Händler von dem zweiten Ausgang an diesem Abend heimkehrte, fand er seine Tochter mit vom Weinen stark geröteten Augen im Wohnzimmer am Tisch sitzend vor.

„Kind, was hast Du? So niedergeschlagen?“ fragte er besorgt.

Sie antwortete nicht, sondern schaute ihn nur mit ihren ehrlichen, reinen Augen vorwurfsvoll an. Und diesem Blick hielt er nicht stand. Verwirrt holte er sich einen Stuhl herbei und setzte sich neben sie.

„Wera, bekomme ich denn keine Antwort?“ bat er leise, indem er nach ihrer Hand haschte. „Sag’, was drückt Dich, Kind? Du bist überhaupt in den letzten Tagen so seltsam verändert, fast scheu mir gegenüber.“

Da erhob sie sich mit jäher Bewegung.

„Vater, wozu die Komödie? Wozu fragst Du mich,“ rief sie bitter. „Du mußt doch am besten wissen, was mich quält. Dein Bruder ist’s, der uns einander entfremdet hat. Seitdem er hier aufgetaucht ist, hast Du Heimlichkeiten über Heimlichkeiten vor mir. Und früher gab es nichts, das einer[1] dem andern vorenthielt. Glaube aber ja nicht, daß ich dieses Spiel etwa nicht durchschaue. Du hältst mich für weltfremder, für harmloser als ich in Wirklichkeit bin. Ich weiß sehr gut: Dein Bruder ist noch immer hier in


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Walther Kabel: Das Geheimnis eines Lebens. Verlag moderner Lektüre G.m.b.H., Berlin 1920, Seite 67. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Geheimnis_eines_Lebens.pdf/68&oldid=- (Version vom 31.7.2018)