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Das Ausland. 1,2.1828

Das Ausland.
Ein Tagblatt
für Kunde des geistigen und sittlichen Lebens der Völker,
mit besonderer Rücksicht auf verwandte Erscheinungen in Deutschland.

Num. 141. 20 May 1828.

Die neugriechische Poesie.

[1]


Was in dem schönen Epigramme die Weinrebe zu dem gefräßigen Thiere sagt, von dem ihre edlen Sprößlinge benagt werden, das hat Griechenland seit den 3000 Jahren seiner mit Ruhm und Herrlichkeit eben so, wie mit Jammer und Elend beladenen Geschichte noch allen seinen Peinigern und Drängern in Recht und Wahrheit zugerufen:

Nagst du mich auch bis zur Wurzel, doch werd’ ich wieder entsprossen,
Wein zu spenden, o Bock, wenn du als Opfer erliegst.


Der ächte, erst seit wenig Jahren den übrigen Völkern bekannt gewordene, Gesang des sich selbst überlassenen Volks, der ohne fremden Antrieb aus ihm hervorhallt, und was in ihm sich regt, ohne andere Zuthat in voller Frische und Lauterkeit ausspricht, dieser ist es, den wir in das Auge fassen, um in ihm das treue Bild des Volkes und seines noch jetzo originalen und lichten Geistes zu entdecken. Obwohl vielgestaltig und auf dem Festland wie auf den Inseln vorhanden, blieb er doch wie das ganze innere Leben des neuen Griechenlands den Fremdlingen bis zum Beginn der großen Bewegung verborgen, und den Griechen selbst, welche der Bildung wegen mit ihnen in Verkehr traten, schien, wie auch bei uns vor Lessing und Herder, was im Munde des Volkes lebte, keiner Beachtung werth: sie werden auch jetzt noch bei der Nachfrage nach nationalen Gesängen meist eher die Lyrika eines Kalbos, die Anakreontika eines Christopulos nennen, als jene Tragudia der Pallikaren, der Schiffer und Hirten, oder die lieblichen Lieder, welche bei Hochzeit und Reigentanz von den Jungfrauen gesungen werden. Am ersten wurden die Engländer, welche zur Zeit, wo ihnen Europa geschlossen war, sich desto häufiger nach Griechenland wendeten, darauf mehr aufmerksam, und Leake liefert in seinen Untersuchungen über Griechenland schätzbare Nachrichten, in denen jedoch die Poesie des Volkes und der Unterrichteten nicht gehörig geschieden sind. Auch Lord Byron, wiewohl er fast nur historische Lieder kannte, zeigt im Anhange zu Childe Harold sich jenen geneigt. Eine vollständige Sammlung wurde zuerst in Deutschland vor etwa zwanzig Jahren durch den Baron Werner von Haxthausen unternommen, die noch jetzt nicht gedruckt ist. Göthe, dem Proben daraus in Uebersetzung zukamen, erklärte sie für die besten Volkslieder, die ihm bekannt wären; in keinen andern seyen die drei Arten der Poesie, das Erzählende, das Lyrische und Dramatische so schön verbunden. Hierauf hat die große Bewegung der letzten sieben Jahre, welche das Innere von Griechenland den europäischen Völkern aufschloß, auch diese Lieder mehr an das Licht gestellt. Eine und die erste beträchtliche Sammlung, mit welcher vor drei Jahren dem deutschen Mitarbeiter zuvorkam, ist seitdem durch andere schätzbare Nachträge vermehrt worden, [2] so daß für ein Urtheil über diese nun aufgeschlossene Gattung von Poesie die Urkunden in hinlänglicher Anzahl vorliegen.

Die Sprache dieser Gesänge, neu-griechisch oder romaisch genannt, ist nicht durch eine gewaltsame Katastrophe, sondern durch allmälige Wandelung des Redegebrauches aus der alten hervorgegangen. Wenn sie bis zum zwölften Jahrhunderte nicht geschrieben ward, so geschah es, weil die Atticisten dem alten Griechisch im Schriftgebrauch ein über sein Leben hinausreichendes künstliches Daseyn zu bewahren gewußt hatten, wie im Abendlande die Latinisten dem Latein, bis Bocaccio und Dante kamen, um dem Volk das Recht, seine Sprache statt der ausgestorbenen in Schriften zu gebrauchen, gegen die Vorurtheile der Gelehrten geltend zu machen. Es kommt demnach die Sprache der Neugriechen neben der alten nicht als eine neue zu betrachten, wie Italienisch neben Latein, sondern sie ist die Sprache ihrer Vorfahren mit ihren Formen und Fügungen, nur, wie das Volk, in sich verarmt, und im Gebrauch umgewandelt, wie es allen Sprachen, der alt-griechischen nicht am wenigsten, begegnet ist; doch zwischen den neuesten Liedern und den alt-attischen ist der Unterschied in sprachlicher Hinsicht nicht größer als zwischen diesen und den alt-epischen Gesängen, und wenn nicht wenige Formen neu geworden, so ist dagegen manches in den Schriftgebrauch eingetreten, was nach

  1. Auszug aus dessen Vorlesung, gehalten in der Sitzung der königl. Akademie der Wissenschaften zu München am 28 März 1828.
  2. Besonders in den drei Bänden der Eunomia von Iken und Kind. Das französische Werk hat den Titel: Chants populaires de la Grèce moderne. Recueïllis et publiés, avec une traduction française, des éclaircissemens et des notes. Par C. Fauriel. Tom. I. Chants historiques. Tom. II. Chants historiques, romanesques et domestiques, Paris 1824 und 1825.
Empfohlene Zitierweise:
: Das Ausland. 1,2.1828. Cotta, München 1828, Seite 561. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Ausland_(1828)_587.jpg&oldid=- (Version vom 29.9.2023)