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Das Ausland. 1,2.1828

Das Ausland.
Ein Tagblatt
für Kunde des geistigen und sittlichen Lebens der Völker,
mit besonderer Rücksicht auf verwandte Erscheinungen in Deutschland.

Num. 124. 3 May 1828.

Religiosität in Frankreich.


Es besteht in Frankreich, seit längerer Zeit, eine Gesellschaft, die unter dem Namen der katholischen Societät für gute Bücher (Société catholique des bons livres) bekannt ist und angeblich den Zweck hat, das, was man religiöse Indifferenz zu nennen pflegt, zu bekämpfen, die verirrten Kinder der katholischen Kirche zu ihrer Mutter zurück zu führen, und vor allen Dingen den Fortschritten des Protestantismus Schranken zu setzen. Der kürzlich verstorbene Herzog von Riviere, Gouverneur des Herzogs von Bordeaux [1], war bisher der Präsident dieser Gesellschaft, die unter ihren Mitgliedern eine große Anzahl von Prälaten, Vorstehern von Seminarien, vornehmen Herren und Frommen des Hofes zählt. Der angebliche Zweck dieser Gesellschaft, sagten wir, sey, den Triumph des Katholicismus zu sichern; nach den Werken, welche sie unter dem Volke in Umlauf gesetzt hat, möchte man indessen glauben, daß ihr wahrer Zweck nicht sowohl der sey, religiöse Gesinnungen – die wir doch für den Kern des Katholicismus halten – als einen glühenden, menschenfeindlichen Fanatismus zu verbreiten, die heranwachsende Generation dumm zu machen, und sich des Willens und der Neigungen der Jugend zu bemeistern, um sie in einem Zustande der tiefsten Knechtschaft zu erhalten und sich für die Zukunft Werkzeuge der religiösen, sittlichen und politischen Tyrannei vorzubereiten. Erst seit kurzer Zeit ist man auf diese Gesellschaft aufmerksam geworden, die ihre Thätigkeit meist nur auf die niedern Stände und die Departements beschränkte, und sie hat daher ungestört eine Menge von Büchern verbreiten können, deren Titel keinen Verdacht erregen, und deren Inhalt doch bereits unendliches Unheil gestiftet hat.

Auch in Deutschland haben sich nur zu häufig ähnliche Bestrebungen gezeigt, wenn auch vielleicht nicht nach einem so consequenten und umfassenden Plane geleitet; wir glauben uns daher um die zahlreichen Mitglieder unserer Vereine zur Ausbreitung religiöser Tractätchen ein Verdienst zu erwerben, wenn wir sie mit dem Treiben ihrer Freunde in Frankreich bekannt machen. Wir entlehnen deshalb aus einem im Geiste unparteiischer Forschung geschriebenem Journal (Révue Trimestrielle, Janvier p. 2ff) folgende Notizen über einige der „guten Bücher,“ die von der französischen Gesellschaft vertheilt wurden.

Das erste der guten Bücher – sagt der Verf. des angeführten Artikels – das mir in die Hände kam, war: La Vie de Marie-Angelique de la Providence (Zweiter Titel. l’Amour de Dieu seul, ein Theil der Bibliothèque chrétienne pour l’education de la jeunesse, Paris 1825. 8) von Boudon. Der Herausgeber benachrichtigt uns, daß Henri-Marie-Boudon zu seinen Lebzeiten Priester, Doctor der Theologie und Archidiaconus von Evreux war, und daß das Leben der Schwester „Angelika der Vorsehung“ sich im Manuscript im Kloster Mariahülf (Notre Dame de Bon-Secours) der ehrwürdigen Väter Karmeliter-Barfüßer in der Normandie gefunden habe. Was die Schwester Angelika betrifft, so war sie die Tochter einen Krämers von Evreux, Namens Pierre Simon, und sie verdankte es der weisen Leitung des frommen Boudon – fügt der Herausgeber hinzu – daß sie zu einer Stufe der Vollkommenheit gelangte, auf der sie allen Jungfrauen, die das Heil ihrer Seele nicht vernachlässigen wollen, zum Vorbild empfohlen werden kann. – Wir wollen nun sehen, auf welche Weise man zu jener Vollkommenheit gelangt, wenn man dem Beispiele der Schwester Marie-Angelika folgt.

„Als diese Schwester noch sehr jung war,“ sagt der fromme Boudon, „hatte sie eine so außerordentliche Neigung zur Reinlichkeit, daß es zum Erstaunen war. Nichts machte ihr eine unangenehmre Empfindung, als wenn sie in dem Hause ihrer Eltern etwas sah, das nicht in Ordnung war, wie Kleider, Wäsche, die zerstreut umherlagen u. dergl.“

Man hält allgemein dafür, daß diese Reinlichkeit und Ordnungsliebe in allen Perioden des Lebens etwas sehr Löbliches sey. Fenelon in seinem Traité sur l’education des filles, einem Werklein, das sich in der Bibliothèque chrétienne nicht findet, empfiehlt die Reinlichkeit als das erste Sittengebot; aber unsere modernen katholischen Christen der Societät sind in der Vollkommenheit weiter gekommen, als der Erzbischof von Cambrai; nicht die Reinlichkeit, sondern die Unreinlichkeit ist es, was in ihren Augen als Tugend erscheint; sie wissen nicht, welcher Worte sie sich bedienen sollen, um die kleine Schwester Marie-Angelika zu loben, die – in der Absicht, ihre natürliche Neigung zur Reinlichkeit zu überwinden – Gassenkoth und andere Unsauberkeiten in dem Hause ihrer Eltern verbreitete, was diesen äußerst angenehm und vor Gott ein großes Verdienst gewesen seyn muß.

In ihrem achten oder neunten Jahre ging Marie Angelika

  1. S. Journal des Débats, 23 Avril.
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: Das Ausland. 1,2.1828. Cotta, München 1828, Seite 493. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Ausland_(1828)_513.jpg&oldid=- (Version vom 10.7.2023)