Seite:Das Ausland (1828) 483.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Das Ausland. 1,2.1828

Das Ausland.
Ein Tagblatt
für Kunde des geistigen und sittlichen Lebens der Völker,
mit besonderer Rücksicht auf verwandte Erscheinungen in Deutschland.

Num. 117. 26 April 1828.

General Pelets Urtheil über die Angelegenheiten des Orients.


(Fortsetzung.)

Zwei Betrachtungen, die anderswo ohne Bedeutung seyn würden, erhalten eine entschiedene Wichtigkeit bei diesen nicht civilisirten Nationen. Die Bevölkerung Europas enthält 70 Millionen Slaven, 62 Millionen germanischen und 65 Millionen lateinischen Ursprungs. In Rußland leben 47 Millionen der ersteren, die übrigen in Polen, der Moldau, in Croatien etc. Der zweite Stamm verbreitet sich über Deutschland, England und Schweden; die vom lateinischen Stamm wohnen in den mittäglichen Staaten. Zur griechischen Religion bekennen sich 57 Millionen, wovon der größte Theil in Rußland; 7 Millionen wohnen in der Türkei, und 3 Millionen auf östreichischem Gebiete. Der Selbstherrscher aller Reussen ist ein Abkömmling der Fürsten der Slaven (d. i. der Nation des Ruhmes, [1] und somit von einem Stamm, der auch da wo er einige benachbarte Länder bewohnt, in Sprache, in Sitten und Gebräuchen keinen besondern Unterschied zeigt; der Kaiser ist zugleich das Oberhaupt seiner Kirche, und der unumschränkte Gebieter der Gewissen wie der Personen. Unter diesem doppelten Titel hat der Czar einen unermeßlichen Einfluß auf seine Staaten, und auch auf jene, welche er erobern will.

Indessen ist nicht zu übersehen, daß das russische Reich auch seine Unvollkommenheiten hat. Die Meere, welche Europas Küsten umgeben, diese wahren Straßen des Handels und des Reichthums sind ihm verschlossen; nur vom weißen Meere aus, das einen Theil des Jahres mit Eisfeldern bedeckt ist, kann es dahin gelangen. Die Flüsse, welche auf seiner ganzen Oberfläche eine herrliche innere Schifffahrt begünstigen, münden in die Ostsee und ins schwarze Meer, deren Pforten von fremden Mächten bewacht werden. Zwei Citadellen, am Eingange des Sunds und des Bosporos, sperren alle Wasserstraßen Rußlands. Der größte politische Plan, der je gefaßt wurde, ist ohne Zweifel jener Peters des Großen. Indem er die Nothwendigkeit erkannte, die Mündungen seiner Flüße frei zu machen, baute er auf ihren ruhigen Wellen ansehnliche Flotten, rückte gegen beide Meere vor, und gründete Petersburg, als seine provisorische Hauptstadt. Er hinterließ diese großartigen Entwürfe seinen Nachfolgern, die ihnen treu blieben; er öffnete ihnen den Sund und den Bosporos. Diese beiden Meerengen, besonders die letztere, sind die einzigen Auswege für den innern Handel und die Produkte Rußlands. [2] Ihr Besitz ist unentbehrlich für seinen Handel, seinen Ackerbau, und für die Fortschritte seiner Civilisation. Nichts kann Rußland von diesem bedeutenden Ziele abbringen.

Rußland ist der Feind Europas, [3] weil es zu seiner Zeit jede Macht in ihrem Gebiete schmälern, und einen usurpatorischen Einfluß auf sie ausüben kann. Es befindet sich in gleicher Stellung wie das römische Volk zur Zeit seines Wachsthums. Es gibt in unsern Tagen ein leichteres Mittel, die Staaten zu beherrschen, als es die Militär-Colonien des alten Roms waren: dies ist die Marine, worin gerade die schwache Seite unsrer Staaten besteht. Besitzt Rußland einmal Matrosen und die Waldungen des Archipels und des baltischen Meeres, so wird es der gefürchtete Nebenbuhler Englands, und bald dessen Sieger. Es wird Europa mit festen Punkten umzingeln, und am Sund, auf Heligoland oder einer Insel des Texels und Zelands, auf Jersey oder Minorka einige Gibraltars bauen. Vielleicht begnügt es sich, den vorspringenden Winkel von Polen zu runden, indem es dessen zerrissene Provinzen wieder vereinigt, und seine europäische Citadelle, zwei Meilen von Glogau, auf einer der Inseln in der Oder errichtet. Wo ist dann die Freiheit und Unabhängigkeit Europas? Entweder muß Rußland in die Grenzen von 1763 zurückgedrängt werden, oder seine großen Entwürfe gehen in Erfüllung.

Man beschuldige mich nicht der Uebertreibung. Seit einem Jahrhundert sind diese Absichten offen verkündet; vergebens haben wir sie 1812 bekämpft. Europa steht an der Entwickelung dieses Dramas, welche unmittelbar auf die Eroberung von Constantinopel folgen muß; und was für Rußland eine augenblickliche Anstrengung ist, wird ihm zur Gewohnheit werden. Diese Macht kann unermeßliche Armeen ausrüsten; denn sie besitzt in ihrer Bevölkerung


  1. Slava heißt der Ruhm
  2. In den letzten Jahren überschwemmte Rußland das südliche Frankreich mit Getreide aus Odessa, und verursachte durch den niedrigen Preis desselben unserm Ackerbau einen empfindlichen Verlust. Seitdem das schwarze Meer geschlossen ist, hat sich in diesem Departement der Preis des Getreides verdoppelt, während das Korn in den südlichen Provinzen Rußlands sich aufhäufte, wo die Bevölkerung und der Anbau sich täglich vermehren. Das polnische Getreide vergrößert jetzt ebenfalls die Ausfuhr dieser Macht. Alle russischen Produkte können leicht ins schwarze Meer kommen, welches durch mehrere Kanäle mit dem ganzen Reiche und mit der Ostsee verbunden ist. Die Staatsmarine rastet jetzt unthätig in Sebastopol; wenn aber der Ausweg sich öffnet, wird man sie bald in einem blühenden Zustand sehen.
  3. M. s. den Vertrag vom 19ten Jan. 1815, welcher, (gegen die Ausbreitung Rußlands) Frankreich, Oesterreich und England verband, und sonach eine Nachahmung der Politik Choiseuls und des deutschen Reichs war.
Empfohlene Zitierweise:
: Das Ausland. 1,2.1828. Cotta, München 1828, Seite 465. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Ausland_(1828)_483.jpg&oldid=- (Version vom 29.4.2023)