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Das Ausland. 1,2.1828

Das Ausland.
Ein Tagblatt
für Kunde des geistigen und sittlichen Lebens der Völker,
mit besonderer Rücksicht auf verwandte Erscheinungen in Deutschland.

Num. 100. 9 April 1828.

Der religiöse Zwiespalt unter den Armeniern.[1].


Es ist ein unläugbares Zeichen einer aufgeregten und in sich zerrissenen, gegen diese Zerrissenheit aber sich sträubenden Zeit, wenn die philosophische Speculation der positiven Satzungen geoffenbarter Religionen sich zu bemächtigen strebt, um sie nach eigener Einsicht, oder, wie man sich heutigen Tags auszudrücken pflegt, auf wissenschaftlichem Wege zu irgend einem Verständnisse zu bringen. Positive, in einer historischen Zeit von außen her gegebene Glaubensnormen und eine, bloß in sich und durch sich selbst begränzte philosophische Forschung sind ihrem Wesen nach so entgegengesetzter Natur, daß, ohne das Medium der abentheuerlichsten Hypothesen und einer dem Kundigen höchst lächerlichen Wortumstempelung sie immerdar jeglicher Vereinigung nothwendig widerstreben müssen. Das Gegebene ward nach dem Sinne der Urheber nur darum von außen her gegeben, weil es von innen, weil es durch des Menschen eignen Geist nicht gefunden werden könne und solle; hätte es durch eigenes Denken wissenschaftlich gefunden werden können, so wäre ja das wundervolle, übernatürliche Geben von außenher unnöthig und selbst überflüssig gewesen. Und auf welchen, allem Verstande trotzenden Gründen beruht nicht häufig dasjenige, welches diese irrige philosophische Forschung zu einem Verständnisse bringen will? Wer weiß es nicht, wenn es auch der Bischof von Ptolemais, Synesios, nicht schon längst gesagt hätte, daß das Volk das Verständliche verschmäht, und der Wunder bedarf, weil es den Wundern nachhängt? Und wer kann diesem vielgewandten Manne von seinem Standpuncte aus so ganz Unrecht geben, wenn er behauptet: „daß Lug und Trug dem Volke nützlich ist, daß die Wahrheit denen schadet, welche die Kraft nicht haben ihr ganz in’s Antlitz zu schauen?“ „Wenn die priesterlichen Pflichten solch einem Betragen nicht entgegen sind,“ schreibt Synesios weiter an seinen Freund, „so könnte ich mich wohl zum Priesterthume verstehen, mit der Bedingung nämlich, daß ich in meinem Hause ein Philosoph, außerhalb aber ein Fabelhans seyn darf ... Was hat denn das Volk und der Philosoph Gemeinschaftliches? Die Wahrheit muß ewig geheim bleiben; eines ganz andern Dinges bedarf der Pöbel.“

Dieß bedachten nicht Viele in den vergangenen Jahrhunderten, und dieß bedenken nicht Viele zu unseren Zeiten; sie suchen eine Vereinigung des Unvereinbaren und trachten nach einer Verschmelzung des Widerstreitenden. Unter der heiligen Aegide der Civilisation unserer Tage erzeugt dieses unfruchtbare Streben sogenannte philosophische System und sogenannte geniale Ansichten, die, ungehindert und geräuschlos, nur nicht in den Köpfen ihrer Urheber, dem selig und behaglich einherfließenden Flusse der Lethe entgegeneilen; unermeßliches Unglück brachte aber in frühern Jahrhunderten diese verkehrte Richtung des menschlichen Geistes der christlichen Kirchengemeinde, oder richtiger dem ganzen Menschengeschlechte. Aus dieser Mischung des Widerstreitenden sind die abentheurlichsten und ekelhaftesten Ketzereien entstanden, die die Kirche zersplitterten und sie dem Hohne und Gespötte ihrer Feinde preisgaben. Einige dieser ketzerischen Lehren müssen wir jetzt näher betrachten, weil sie in innigem Zusammenhange stehen mit dem Gegenstande unserer Untersuchung.

Kaum war der hundertjährige Kampf geendigt, den die ausschließend sich so nennenden Orthodoxen mit dem zahlreichen Anhange des Arius gekämpft, und durch Feuer und Schwert endlich gewonnen hatten, als der ruhmsüchtige Presbyter von Antiochien, Nestorius genannt, auf den Patriarchensitz nach Constantinopel gerufen ward, und in seiner Antrittspredigt die berühmt gewordenen Worte zum Kaiser sprach: „Gieb mir die Erde von Ketzern gereinigt, so will ich dir dafür den Himmel geben! Hilf mir die Ketzer ausrotten, so will ich dir die Perser ausrotten helfen.“ Schwerlich dachte wohl Nestorius, als er in diesen Worten seine den Andersdenkenden Tod und Verderben drohende Gesinnung vor der Gemeinde verkündete, daß er gar bald von der behaglichen Rolle eines Verfolgers zu dem traurigen Loos eines Verfolgten herabsteigen, daß er dem noch feurigern und listigern Cyrilluns von Alexandrien in die Hände fallen, und von den wüthenden Mönchen der eigenenen Diöcese für einen Erzketzer ausgeschrien werden würde. Welches Vergehen war es nun, was sich Nestorius gegen die Rechtgläubigkeit zu Schulden kommen ließ? Wie konnte ein Mann, den nach der Erzählung des Kirchenhistorikers

  1. Da sich in dem hier folgenden Aufsatze mehrere von den gewöhnlichen Darstellungen der Kirchenhistoriker sehr abweichende Angaben finden, so glauben wir unsere Leser darauf aufmerksam machen zu müssen, daß derselbe zum Theil aus armenischen und bisher – so viel uns bekannt – in Deutschland noch gar nicht benutzten Quellen geschöpft ist. Wir verdanken die Mittheilung desselben einem gelehrten Freunde, der die armenische Sprache und Literatur seit längerer Zeit zum Gegenstande eines besonderen Studiums gemacht hat.
Empfohlene Zitierweise:
: Das Ausland. 1,2.1828. Cotta, München 1828, Seite 397. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Ausland_(1828)_415.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)