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Das Ausland. 1,2.1828

behandelt. Die willkührlichen Haftbefehle des Hofes waren nicht so häufig als früher, aber es war keine Sicherheit gegen dieselben; so daß das Volk, erfreut über die Schonung, nicht unwillig über den Gebrauch der Macht war, gleich dem armen Vogel, der niederkauert und zittert, wenn er den Klauen des Habichts entgangen ist. Die Wahrheit zu reden, die Sache der Menschlichkeit zu vertheidigen, zog sicher immer die Rache der Regierung nach sich, und war eben so viel, als seine eigene Verurtheilung zu unterzeichnen. Loyalität war eine Folge der Berechnung schmutziger Gewinnsucht oder panischer Furcht. Keine Geistesgröße, kein Selbstvertrauen, keine Charakterstärke, sondern an deren Statt List, Verschmitztheit, lächelnder Betrug, zahmer Knechtssinn, Mangel an allem öffentlichen Gefühl; daraus entsprangen dann die Ausschweifungen der Revolution, als die Gewalt in die Hände eines Volkes kam, welches nicht im geringsten gewohnt war, dieselbe zu gebrauchen, und ungeduldig wurde bei jedem Hindernisse, welches sich seinen Wünschen entgegenstellte, aus Mangel an Achtung vor sich selbst und gegenseitigem Vertrauen. Daher die Verrätherei und das schwankende Wesen der Führer, die Wuth der Parteien. Marat widmete vor der Revolution sich ganz dem Studium abstrakter Wissenschaften, und vermied, sich in die Politik zu mischen, aus eingeständlicher Furcht vor der Bastille; es ist nicht zu verwundern, wenn in einem Geiste, gleich dem seinigen, dieses drückende und kleinmüthige Gefühl sich, als seine Reihe kam, zu rächen suchte, indem es denselben Schrecken auch Andern einflößte. Außerdem hatten die Sitten des Hofes das Aeußerste der Leichtfertigkeit und Verworfenheit erreicht, so daß die Tugend dadurch ihre Würde, das Laster jede Scham verlor. „Die Geistlichkeit, ausgeschlossen von den Freuden des häuslichen Lebens, suchte das zu beflecken, was sie nicht genießen konnte, und die allgemeine Ausschweifung für den Vortheil ihres Standes zu benützen. Ihre blutdürstige Bigotterie ward in nicht weniger hassenswerthen versteckten Skepticismus verwandelt, und in glatte, aber um so gefährlichere Nachsicht gegen die Laster der Individuen und die Mißbräuche der Gewalt. Am Hofe Verdorbenheit; in der Kirche Heuchelei; Leichtsinn und Ausgelassenheit im Volke. Der Einfluß des haut ton (wie dieß genannt wurde) hatte sich weit und breit verbreitet, hatte die Literatur durchdrungen und der Philosphie ein falsches und nachtheiliges Gepräge gegeben, indem die Laster des Hofes als unbestreibare Grundsätze der menschlichen Natur dargestellt wurden. Die ganze Gesellschaft war in einer falschen Lage. Alles was man von Loyalität wirklich übrig gelassen hatte, war die Bewunderung der letzten neuen Hoftrachten; von religiösem Eifer, das Verlangen einer imposanten kirchlichen Ceremonie zuzusehen, oder in eine leere Pfründe zu schlüpfen; das wenige, was noch von bürgerlicher Treue und häuslicher Ehrbarkeit im gemeinen Leben vorhanden war, wurde unter den Fuß getreten oder durch das Beispiel der höhern Stände zerstört. Die alte Regierung und die alten Institutionen hatten ihren Halt in den Vorurtheilen und Gefühlen der Gemeinheit verloren, und blieben eigentlich nur als ein Stein des Anstoßes im Wege der Verbesserung zurück, oder als eine gothische Ruine, welche auf die Verbesserer zu fallen und sie zu vernichten drohte; es war hohe Zeit, daß sie fortgeschafft wurde, um einer vernünftigeren und bei der gegenwärtigen Lage der Dinge natürlicheren Ordnung Platz zu machen. Ein System, welches seinen Ursprung in den Feudalzeiten und dem dunkeln Mittelalter hat, und das in dem Zeitalter der Vernunft und Forschung sein Feld behaupten will, ist eine eben so große Abnormität in der moralischen Welt, als eine Geistererscheinung am hellen Tage in der physischen seyn würde. Lächerlichkeit und Ekel treten in diesem Falle unabwendbar an die Stelle der Scheu und Verwunderung. In einem so unzusammenhängenden und unnatürlichen Zustande ist alles erzwungen und unächt. Alte Vorurtheile und Institutionen bleiben nur, um das Gedeihen neuer zu verhindern, oder denselben eine falsche Richtung zu geben, so daß sie, so lange dieß der Fall ist, zu keinem guten und bleibenden Zweck führen können. Eines von beiden: entweder muß die Gesellschaft rückwärts gehen, was doch kaum möglich ist, oder sie muß, jedem entgegenstehenden Hindernisse zum Trotz, vorwärtsschreiten.“ 1. Band S. 161–166.

Wir bedauern keinen Raum nehr für weitere Auszüge aus diesem in mancher Beziehung interessanten Werke zu haben, hoffen aber, sobald dasselbe vollständig in unsern Händen seyn wird, nochmals auf dasselbe zurückkommen zu können.

(Fortsetzung folgt.)



(Schluß.)

Es war von Cauchois-Lemaire ein eben so widersinnig ausgedachter, als unbesonnen in’s Publikum gebrachter Einfall, den Herzog von Orleans zum Chef einer Art französischer Whigopposition vorzuschlagen. Woher will man in Frankreich eine Aristokratie in diesem Sinne nehmen? wollen diese politischen Klügler Frankreich ein ihm fremdes Gepräge aufdrücken? Wissen sie nicht, daß es in England vor der Veränderung der Dynastie keine Whigs gegeben hat? „Die Parteien, sagt Fievée,[1] sind in England weit schärfer getrennt, als in Frankreich, weil sie dort längst wissen, warum sie sich verbunden haben, weil sie Interessen und keine Meinungen verfechten. Nichts ist aber thörichter, als Parteien, die in ihrem Geburtslande selbst bald nicht mehr allen Interessen genügen, in ein fremdes Land übertragen zu wollen. Mit den Parteien ist überhaupt nicht geholfen. Man stößt auf unüberwindliche Schwierigkeitn, wenn man aus ihnen ein Ministerium, sey es ein homogenes oder ein coalisirtes, bilden will.

  1. Nouvelle correspondance politique et administrative. Par J. Fievée. 1ere partie Paris 1er Février 1828 p. 28
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: Das Ausland. 1,2.1828. Cotta, München 1828, Seite 187. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Ausland_(1828)_197.jpg&oldid=- (Version vom 8.10.2021)