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Das Ausland. 1,2.1828

Das Ausland.
Ein Tagblatt
für Kunde des geistigen und sittlichen Lebens der Völker,
mit besonderer Rücksicht auf verwandte Erscheinungen in Deutschland.

Num. 44. 13. Februar 1828.

Die Ultraisten und die Constitutionellen in Frankreich.


Die sechsjährige Diktatur des Villele’schen Ministeriums, dessen Joch Frankreich nunmehr abgeschüttelt hat, kann man als die Prüfungsjahre des konstitutionellen Systems in diesem Lande, und in Europa überhaupt, betrachten. Auf das an die Spitze des Jahrhunderts gestellte Frankreich blicken theilnehmend und erwartungsvoll die Völker, nicht ohne gerechte Besorgnisse für die Ruhe der Welt, die durch das Uebermaß der Reaktionen so leicht von Neuem unterbrochen werden konnte. Die Gefahr ist vorüber, und die loyale Weise, wie die Franzosen den Sturz des verhaßten Triumvirats zu Stande brachten, hat gezeigt, daß sie ministerieller Willkühr wie revolutionärer Anarchie gleich müde sind. Decaze, der die Nation royalisiren, und das Königthum nationalisiren wollte, scheiterte in seinem Unternehmen, weil er zu einer Zeit, da die Partheien des alten und des neuen Frankreichs noch im heftigsten Zweikampfe lagen, zwischen sie trat, aber stets schwankend zwischen dem Guten, das er erkannt hatte, und dem Bösen, dem er nicht entgehen könnte, keiner von beiden Parteien Vertrauen einflößte, und folglich desto gewisser den Haß oder die Verachtung beider sich verdiente. Wahrscheinlich hätte selbst ein Mann von kräftigerem Charakter als Decaze dasselbe Schicksal gehabt. Die constitutionellen Institutionen hatte Ludwig gleichsam improvisirt: sollten sie nun auf die Nation wirken, so mußten sie sich vorher in ihr consolidiren, sie mußten Boden gewinnen, ehe sie Früchte tragen konnten. Aber damals war die Stimmung der Gemüther noch zu leidenschaftlich, als daß die Ansichten der Köpfe hätten klar seyn können; man bewegte sich nur schüchtern oder ungeschickt in dem neuen Geleise; die Uebertreibung in den Grundsätzen der Einen und in den Ansprüchen der Andern ließ an kein Maß, an keine Versöhnung denken. Nicht ohne Grund kam dadurch der Liberalismus fast noch mehr in Mißkredit als der Ultraismus: denn wenn dieser auf seinem partikulär egoistischen Standpunkte immer wußte, was er wollte, und sein Ziel, der Träger des positiven, des stabilen Lebens zu seyn, mit Consequenz und Beharrlichkeit verfolgte, so schien jener, bei allem Streben nach Universalität, doch nur seine praktische Einseitigkeit und Befangenheit und somit seine politische Unfähigkeit zu beurkunden. Indessen haben wir seit jener Zeit die ausgezeichneten Talente eines Foy, Perier, Royer Collard und Anderer kennen gelernt und wir dürfen, ohne ungerecht zu seyn, dem jetzigen französischen Liberalismus um so weniger unsre Achtung versagen, als selbst die Gegenpartei dem Verdienste dieser Männer zu huldigen anfängt, nachdem, wie Chateaubriand sagte, die Liberalen Freunde des Königthums und die Royalisten Freunde der Charte geworden sind. Diese gegenseitige Verständigung oder, wenn man will, Verschmelzung der Parteien ist das Werk der Verwaltung des Herrn von Villele, so daß es scheint, die Vorsehung habe Frankreich für das Böse, das es von ihm erlitten, einigen Ersatz geben wollen in dem Guten, das wider seinen Willen durch ihn geschehen. –

Jener Ruf, der Thron ist in Gefahr, das Echo des königlichen Trauerhauses, welches in ganz Frankreich wiederhallte, verwandelte sich bald in das jauchzende Feldgeschrei der Ultraisten. Der Tod des Herzogs von Berry hätte den Entwürfen dieser Parteimänner zu keiner gelegeneren Zeit kommen können. Längst entschlossen, die Restauration nur mit der völligen Rückkehr zum Alten für beendigt zu erklären, hatten sie bald ihren Schmerz überwunden, um nicht aus Sentimentalität die reellen Vortheile, welche ihr Ehrgeiz aus jenem Ereignisse ziehen konnte, oder die Gelegenheit zur Rache, welche sich ihrem lang verhaltenen, durch die Siege der Revolution bis zur Wuth gesteigerten Grimm darbot, zu verlieren. Man würde sich sehr täuschen, wenn man bei den modernen Royalisten dasselbe tiefe und uneigennütige Gefühl persönlicher Anhänglichkeit an ihre Fürsten voraussetzen wollte, welches in der guten alten Zeit Fürsten und Völker wie Väter und Kinder an einander band. Die schönen Redensarten, welche jene Leute im Munde führen, dürfen unser Urtheil nicht bestimmen; man übersetze den Bombast der Parteisprache in die Sprache des gemeinen Lebens, und man wird Alles, was die Ultraisten von ihrem unbegrenzten Diensteifer für Thron und Altar versichern, sehr begreiflich finden. Wir behaupten nicht, daß die Gegner der Ultraisten ihre Interesse weniger im Auge haben; aber es ist einiger Unterschied, ob man dieses Interesse bloß von seinem isolirten und individuellen Standpunkte, von dem seines Standes und seiner Kaste, oder ob man es von dem der ganzen Gesellschaft aus zu vertreten gemeint ist. Die Ultraisten nennen sich Königsfreunde; sie müßten aber weniger Theoretiker seyn als sie in der That sind, wenn ihre Neigung, ihre Pflicht nicht vorzugsweise dem Königthum angehörte. „Der König stirbt nicht; es lebe der König!“ Mit diesem Grundsatze entbinden sie sich von jeder Pflicht bloß persönlichen Königsdienstes, und begrüßen unbedenklich jeden Nachfolger auf dem Throne,

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: Das Ausland. 1,2.1828. Cotta, München 1828, Seite 173. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Ausland_(1828)_183.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)