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Das Ausland. 1,2.1828

Wächter an die Seite stellen will; die Noth zwingt sie, die Confination zu brechen. Man flieht sie, und sie fliehen wieder, wo man sie kennt. Aber kennt man sie nicht überall? Wie soll ein solcher Unglücklicher Arbeit finden, die ihn ernährt, Menschen, die ihn aufnehmen? Jeder, der eine entehrende Strafe erlitten, bekommt statt des gewöhnlichen Passes eine Karte, welche seine Verurtheilung enthält, und ihm nach seiner Wahl einen Aufenthaltsort anweist, den er nicht ohne Erlaubniß verlassen darf, wo er sich von Zeit zu Zeit vor der Behörde zu stellen hat, wo er aber in der Zwischenzeit ohne Aufsicht bleibt. Man hat die Zweckmäßigkeit jener Karte bestritten, und doch ist ihre Nothwendigkeit unläugbar. Man kann doch unmöglich dem gewesenen Galeerensklaven ein Zeugniß der Sittlichkeit ausstellen, durch eine offizielle Lüge seine Schande bedecken, ihm eine Achtung verschaffen, die nur dem Rechtschaffenen gebührt, ihm die Mittel reichen, das öffentliche Zutrauen, gegen das er schon gefrevelt, von Neuem zu täuschen; man kann eben so wenig voraussetzen, daß derselbe von der Ruderbank andere Grundsätze zurück bringe, als die, welche ihn dahin gebracht haben, daß er komme, um der Welt das erbauliche Beispiel eines zerknirschten gebesserten Verbrechers zu geben. Wer will an die Tugend der Gefängnisse, an die Reue der Zuchthäuser glauben? Wenn auf der einen Seite die polizeiliche Aufsicht unerläßlich, auf der andern mit bedeutenden Inconvenienzen verbunden ist, so verlangt Chateauneuf, daß dieser Stand der Dinge anders werde, daß man ein in seinen Prinzipien vernünftigeres, in seinen Folgen weniger gefährliches Strafsystem einführe. – Setzen wir als Axiom fest, daß die Strafe die sittliche Besserung des Schuldigen zum Zweck haben solle. – „Es giebt nur Ein Mittel“ rufen die Einen; „man muß die religiösen Gefühle in den Herzen, wo sie erloschen sind, wieder anfachen.“ „Erleuchtet die Geister,“ sagen die Andern; „verbreitet den Unterricht in die Hütten der Aermsten, und vertraut den Wohlthaten der Aufklärung.“ Chateauneuf ergreift weder das eine noch das andere dieser Systeme ausschließlich. Ohne Zweifel ist der sittliche Einfluß der Religion unermeßlich, aber die Völker und die Individuen – man betrachte die Italiener und Spanier – sind nicht eben in demselben Verhältnisse tugendhaft, wie sie in den Vorschriften ihrer Religion pünktlich sind. Und die Aufklärung, welche die Sitten verfeinert, wechselt oft nur die wilde Kraft der Barbaren gegen die raffinirte Lasterhaftigkeit greiser Völker. In England ist der Unterricht zweimal so verbreitet, als in Frankreich; die Verbrechen aber sind daselbst viermal so zahlreich: im Jahr 1826 kam auf 4211 Menschen in Frankreich Ein Verbrecher, in England aber auf 950. In Frankreich sind die zwei äußersten Puncte der Civilisation Paris und Corsica: man bemerke die Verschiedenheit des Charakters, welchen die Vergehungen in beiden annehmen. In Paris werden 90 von 100 wegen Vergehen gegen das Eigenthum, in Corsica 76 von 100 wegen Verbrechen gegen Personen verurtheilt. In ganz Frankreich sind die Verbrechen gegen Personen 29 von 100, in England kaum 4 von 100. Dieß ist die positive Wirkung der Civilisation auf die Sitten: indem sie die Verbrechen gegen die Personen in Verbrechen gegen die Sachen verwandelt, macht sie aus einem Mörder einen Gauner, aus einem Räuber einen Betrüger; sie setzt die List an die Stelle der Kraft, den Diebstahl an die Stelle der Gewaltthat. Diese sittliche Veränderung ist vielleicht eine Verbesserung, aber gewiß nicht die, welche man für die Verurtheilten suchte. Welches soll also der mächtige Einfluß seyn, der einem verdorbenen Herzen die Tugend und die Liebe zur Ordnung wieder geben soll, wenn die Religion und die Aufklärung allein es nicht vermögen? „Es giebt,“ sagt Chateauneuf, „nur ein wirksames Mittel, den Verbrecher zu ändern: man ändere seine Lage. Er kennt keinen eigenen Besitz; man gebe ihm denselben, man knüpfe ihn an das Gute, indem man das doppelte Interesse für die Familie und das Eigenthum in ihm erweckt. Dieß ist aber in Frankreich nicht möglich; thut es daher anderswo, und seyd überzeugt, daß ein Deportirter, der 1000 Meilen fern den Acker baut, dessen Ertrag ihm gehört, auf jeden Fall mehr werth ist, als der Galeerensklave, der unter der Last der Ketten und der Schläge den Schlamm unserer Häfen wegschafft, und die Lecke unserer Schiffe ausbessert.“ Das Eigenthum ist die wahrhafte Grundlage der öffentlichen Moral, weil es dem Menschen das Gefühl seiner Würde und ein Interesse für die Aufrechthaltung der bürgerlichen Ordnung einflößt. Wenn Frankreich über England eine unermeßliche moralische Ueberlegenheit besitzt, so verdankt es dieselbe der gleichmäßigeren Vertheilung des Eigenthums. Immer waren und sind es die Proletarier, welche die Gefängnisse bevölkern. Die Deportation hat zur Folge, daß das Land von der verdorbensten Klasse dieser Leute befreit wird, die in einem Zustand immerwährender Zerfallenheit mit den Gesetzen sich befinden; auf einem andern Punkt der Erde wird aus ihnen eine neue Bevölkerung von Land-Eigenthümern.

Die Hauptschwierigkeit gegen die Ausführung des Deportationssystems ist nicht der Geldaufwand. Chateauneuf berechnet, daß die Gefangenen in Frankreich jährlich 11 Millionen kosten, ohne daß man eine productive Arbeit von ihnen erhielte. Angenommen, daß die Arbeit eines Deportirten in den Kolonien gleich sey der Arbeit eines Negers, und daß der erste Transport aus 5,000 Verurtheilten bestehe, so ist im Verlauf einiger Jahre der Ertrag ihrer Arbeit 2,500,000 Fr.; und wenn ihre Anzahl auf 10,000 gebracht wird, 5,000,000 Fr., eine Summe, die hinreicht, um die Kosten der Niederlassung zu decken. Schwieriger ist es den Ort zu bestimmen, wo Frankreich seine Deportirten-Colonie errichten könnte. Chateauneuf wagt keinen Vorschlag deshalb zu machen. Indessen ist die Deportation in den Gesetzbüchern des Staats als Strafe ausgesprochen. Die Gerichte erkennen auf sie, und so entsteht die bizarre und grausame Anomalie, daß die Unglücklichen, die auf einen fremden Boden gebracht werden sollten, fortwährend in den Kerkern von Mont S. Michel seufzen.

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: Das Ausland. 1,2.1828. Cotta, München 1828, Seite 164. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Ausland_(1828)_174.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)