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herstellen kann, als ebensoviel neue und bestimmte Arten betrachtet werden würden; denn wir können nicht behaupten, irgend ein sicheres Criterium zu besitzen, nach dem sich Arten von Varietäten unterscheiden lassen.

Wer diese Ansichten von der Unvollkommenheit der geologischen Urkunden verwerfen will, muß auch folgerichtig meine ganze Theorie verwerfen. Denn vergebens wird er dann fragen, wo die zahlreichen Übergangsglieder geblieben sind, welche die nächstverwandten oder stellvertretenden Arten einst mit einander verkettet haben müssen, die man in den aufeinanderfolgenden Lagern einer und derselben großen Formation übereinander findet. Er wird nicht an die unermeßlichen Zwischenzeiten glauben, welche zwischen unseren aufeinander folgenden Formationen verflossen sein müssen; er wird übersehen, welchen wesentlichen Antheil die Wanderungen, – die Formationen irgend einer großen Weltgegend wie Europa für sich allein betrachtet, – gehabt haben; er wird sich auf das offenbare, aber oft nur scheinbar plötzliche Auftreten ganzer Artengruppen berufen. Er wird fragen, wo denn die Reste jener unendlich zahlreichen Organismen geblieben sind, welche lange vor der Bildung des cambrischen Systems abgelagert worden sein müssen? Wir wissen jetzt, daß wenigstens ein Thier damals existirte; die obige Frage kann ich aber nur hypothetisch beantworten mit der Annahme, daß unsere Oceane sich schon seit unermeßlichen Zeiträumen an ihren jetzigen Stellen befunden haben, und daß da, wo unsere auf und ab schwankenden Continente jetzt stehen, sie sicher seit dem Beginn des cambrischen Systems gestanden sind; daß aber die Erdoberfläche lange vor dieser Periode ein ganz anderes Aussehen gehabt haben dürfte, und daß die älteren Continente, aus Formationen noch viel älter als irgend eine uns bekannte bestehend, sich jetzt nur in metamorphischem Zustande befinden oder tief unter dem Ocean versenkt liegen.

Doch sehen wir von diesen Schwierigkeiten ab, so scheinen mir alle andern großen und leitenden Thatsachen in der Paläontologie wunderbar mit der Theorie der Descendenz mit Modificationen durch natürliche Zuchtwahl übereinzustimmen. Es erklärt sich daraus, warum neue Arten nur langsam und nach einander auftreten, warum Arten verschiedener Classen nicht nothwendig zusammen oder in gleichem Verhältnisse oder in gleichem Grade sich verändern, daß aber alle im Verlaufe langer Perioden Veränderungen in gewisser Ausdehnung

Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe um's Dasein. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1876, Seite 429. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinEntstehung1876.djvu/439&oldid=- (Version vom 31.7.2018)