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Pianoforte nach wunderbar wenig Übung zu spielen, ohne alle vorgängige Übung eine Melodie gespielt hätte, so könnte man mit Wahrheit sagen, er habe dies instinctiv gethan. Es würde aber ein bedenklicher Irrthum sein anzunehmen, daß die Mehrzahl der Instincte durch Gewohnheit schon während einer Generation erworben und dann auf die nachfolgenden Generationen vererbt worden sei. Es läßt sich genau nachweisen, daß die wunderbarsten Instincte, die wir kennen, wie die der Korbbienen und vieler Ameisen, unmöglich durch die Gewohnheit erworben sein können.

Man wird allgemein zugeben, daß für das Gedeihen einer jeden Species in ihren jetzigen Existenzverhältnissen Instincte eben so wichtig sind, als die Körperbildung. Ändern sich die Lebensbedingungen einer Species, so ist es wenigstens möglich, daß auch geringe Änderungen in ihrem Instincte für sie nützlich sein werden. Wenn sich nun nachweisen läßt, daß Instincte, wenn auch noch so wenig, variiren, dann kann ich keine Schwierigkeit für die Annahme sehen, daß natürliche Zuchtwahl auch geringe Abänderungen des Instinctes erhalte und durch beständige Häufung bis zu einem vortheilhaften Grade vermehre. In dieser Weise dürften, wie ich glaube, alle und auch die zusammengesetztesten und wunderbarsten Instincte entstanden sein. Wie Abänderungen im Körperbau durch Gebrauch und Gewohnheit veranlaßt und verstärkt, dagegen durch Nichtgebrauch verringert und ganz eingebüßt werden können, so ist es zweifelsohne auch mit den Instincten der Fall gewesen. Ich glaube aber, daß die Wirkungen der Gewohnheit in vielen Fällen von ganz untergeordneter Bedeutung sind gegenüber den Wirkungen natürlicher Zuchtwahl auf sogenannte spontane Abänderungen des Instinctes, d. h. auf Abänderungen in Folge derselben unbekannten Ursachen, welche geringe Abweichung in der Körperbildung veranlassen.

Kein zusammengesetzter Instinct kann möglicherweise durch natürliche Zuchtwahl anders als durch langsame und stufenweise Häufung vieler geringer, aber nutzbaren Abänderungen hervorgebracht werden. Hier müßten wir, wie bei der Körperbildung, in der Natur zwar nicht die wirklichen Übergangsstufen, die jeder zusammengesetzte Instinct bis zu seiner jetzigen Vollkommenheit durchlaufen hat, – die ja bei jeder Art nur in ihren Vorgängern gerader Linie zu entdecken sein würden –, wohl aber einige Beweise für solche Abstufungen in den Seitenlinien von gleicher Abstammung finden, oder wenigstens nachweisen

Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe um's Dasein. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1876, Seite 289. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinEntstehung1876.djvu/299&oldid=- (Version vom 31.7.2018)