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Nichtsdestoweniger will ich hier einige von Mr. Mivart vorgebrachte Fälle in ziemlicher Ausführlichkeit betrachten und dabei die illustrativsten auswählen, da mich der Mangel an Raum abhält, sie alle durchzugehen.

Der ganze Körperbau der Giraffe ist durch ihre hohe Statur, ihren sehr verlängerten Hals, Vorderbeine, Kopf und Zunge wundervoll für das Abweiden hoher Baumzweige angepaßt. Sie kann dadurch Nahrung erlangen jenseits der Höhe, bis zu welcher die anderen Ungulaten oder Hufthiere, die dieselbe Gegend bewohnen, hinauf reichen können; und dies wird während der Zeiten der Hungersnöthe für sie ein großer Vortheil sein. Das Niata-Rind in Süd-America zeigt uns, welche geringe Verschiedenheit im Bau während derartiger Zeiten einen bedeutenden Unterschied im Erhalten des Lebens eines Thieres bewirken kann. Diese Rinder können ebensogut wie andere Gras abweiden; aber wegen des Vorspringens des Unterkiefers können sie während der häufig wiederkehrenden Zeiten der Dürre die Zweige der Bäume, Rohr u.s.w., zu welcher Nahrung das gewöhnliche Rind und die Pferde dann getrieben werden, nicht abpflücken; so daß in solchen Zeiten die Niata-Rinder umkommen, wenn sie nicht von ihren Besitzern gefüttert werden. Ehe wir auf Mr. Mivart’s Einwand kommen, wird es zweckmäßig sein, noch einmal zu erklären, wie die natürliche Zuchtwahl in allen gewöhnlichen Fällen wirken wird. Der Mensch hat einige seiner Thiere dadurch modificirt, – ohne nothwendig auf specielle Punkte ihres Baues zu achten –, daß er einfach entweder die flüchtigsten Thiere erhalten und zur Zucht benutzt hat, wie bei den Rennpferden und Windhunden, oder daß er von den siegreichen Thieren weiter gezüchtet hat, wie bei den Kampfhühnern. So werden im Naturzustande, als die Giraffe entstand, diejenigen Individuen, welche am höchsten abweiden und in Zeiten der Hungersnöthe im Stande waren, selbst nur einen oder zwei Zoll höher hinauf zu reichen als die andern, oft erhalten worden sein, denn sie werden die ganze Gegend beim Suchen von Nahrung durchstrichen haben. Daß die Individuen einer und der nämlichen Art häufig unbedeutend in der relativen Länge aller ihrer Theile verschieden sind, läßt sich aus vielen naturgeschichtlichen Werken ersehen, in denen sorgfältige Messungen gegeben sind. Diese geringen proportionalen Verschiedenheiten, welche Folgen der Wachsthums- und Abänderungsgesetze sind, sind für die meisten Species nicht vom mindesten Nutzen oder

Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe um's Dasein. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1876, Seite 250. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinEntstehung1876.djvu/260&oldid=- (Version vom 31.7.2018)