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würden wir keine großen und gleichzeitigen Veränderungen sehen, sondern finden, daß erst ein Theil und dann ein anderer unbedeutend modificirt und veredelt wurde. Selbst wenn die Zuchtwahl vom Menschen auf einen Character allein angewendet worden ist – wofür unsere cultivirten Pflanzen die besten Beispiele darbieten –, wird man unveränderlich finden, daß zwar dieser eine Theil, mag es nun die Blüthe, die Frucht oder die Blätter sein, bedeutend verändert worden ist, daß aber beinahe alle übrigen Theile unbedeutend modificirt worden sind. Dies läßt sich zum Theil dem Principe der Correlation des Wachsthums, zum Theil der sogenannten spontanen Abänderung zuschreiben.

Einen viel ernsteren Einwand hat Bronn und neuerdings Broca gemacht, nämlich, daß viele Charactere für ihre Besitzer von durchaus gar keinem Nutzen zu sein scheinen und daher nicht von der natürlichen Zuchtwahl beeinflußt worden sein können. Bronn führt die Länge der Ohren und des Schwanzes in den verschiedenen Arten der Hasen und Mäuse, die complicirten Schmelzfalten an den Zähnen vieler Säugethiere, und eine Menge analoger Fälle an. In Bezug auf Pflanzen ist dieser Gegenstand von Nägeli in einem vortrefflichen Aufsatze erörtert worden. Er gibt zu, daß natürliche Zuchtwahl viel bewirkt hat; er hebt aber hervor, daß die Pflanzenfamilien hauptsächlich in morphologischen Characteren von einander abweichen, welche für die Wohlfahrt der Art völlig bedeutungslos zu sein scheinen. Er glaubt in Folge dessen an eine eingeborene Neigung zu einer progressiven und vollkommneren Entwickelung. Er führt speciell die Anordnung der Zellen in den Geweben und die der Blätter an der Achse als Fälle an, in denen natürliche Zuchtwahl nicht thätig gewesen sein könne. Diesem ließen sich noch die numerischen Abtheilungen in den Blüthentheilen, die Stellung der Eichen, die Form des Samens, wenn diese nicht für die Aussaat von irgend einem Nutzen ist, hinzufügen.

Der obige Einwand hat viel Gewicht. Nichtsdestoweniger müssen wir aber erstens äußerst vorsichtig sein, ehe wir uns zu entscheiden anmaßen, welche Gebilde jetzt für eine jede Species von Nutzen sind oder es früher gewesen sind. Zweitens sollten wir uns immer daran erinnern, daß, wenn ein Theil modificirt wird, es auch durch gewisse dunkel erkannte Ursachen andere Theile werden, so durch vermehrten oder verminderten Nahrungszufluß nach einem

Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe um's Dasein. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1876, Seite 241. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinEntstehung1876.djvu/251&oldid=- (Version vom 31.7.2018)