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kann das eine der beiden dieselbe Function vollziehenden Organe leicht verändert und so vervollkommnet werden, daß es immer mehr die ganze Arbeit allein übernimmt, wobei es während dieses Modificationsprocesses durch das andere Organ unterstützt wird; und dann kann das andere entweder zu einer neuen und ganz verschiedenen Bestimmung modificirt werden oder gänzlich verkümmern.

Das Beispiel von der Schwimmblase der Fische ist sehr belehrend, weil es uns die hochwichtige Thatsache zeigt, wie ein ursprünglich zu einem besonderen Zwecke, zum Flottiren, gebildetes Organ für eine ganz andere Verrichtung umgeändert werden kann, und zwar für die Athmung. Auch ist die Schwimmblase als ein Nebenbestandtheil für das Gehörorgan mancher Fische mitverarbeitet worden. Alle Physiologen geben zu, daß die Schwimmblase in Lage und Structur den Lungen höherer Wirbelthiere „homolog“ oder „ideell gleich“ sei; daher ist kein Grund vorhanden, daran zu zweifeln, daß die Schwimmblase wirklich in eine Lunge oder in ein ausschließlich zum Athmen benutztes Organ verwandelt worden sei.

Nach dieser Ansicht kann man wohl schließen, daß alle Wirbelthiere mit echten Lungen auf dem gewöhnlichen Fortpflanzungswege von einer alten unbekannten Urform abstammen, welche mit einem Schwimmapparat oder einer Schwimmblase versehen war. So mag man sich, wie ich aus Professor Owen’s interessanter Beschreibung dieser Theile entnehme, die sonderbare Thatsache erklären, wie es komme, daß jedes Theilchen von Speise und Trank, die wir zu uns nehmen, über die Mündung der Luftröhre weggleiten muß mit einiger Gefahr in die Lungen zu fallen, der sinnreichen Einrichtung ungeachtet, wodurch der Kehldeckel die Stimmritze schließt. Bei den höheren Wirbelthieren sind die Kiemen gänzlich verschwunden, aber die Spalten an den Seiten des Halses und der schlingenförmige Verlauf der Arterien deuten in dem Embryo noch ihre frühere Stelle an. Doch ist es begreiflich, daß die jetzt gänzlich verschwundenen Kiemen durch natürliche Zuchtwahl zu einem ganz anderen Zwecke umgearbeitet worden sind; so hat z. B. Landois gezeigt, daß sich die Flügel der Insecten von den Tracheen aus entwickeln; es ist daher in hohem Grade wahrscheinlich, daß in dieser großen Classe Organe, die einst zur Athmung gedient haben, jetzt factisch zu Flugorganen umgewandelt worden sind.

Was die Übergangsstufen der Organe betrifft, so ist es so wichtig

Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe um's Dasein. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1876, Seite 213. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinEntstehung1876.djvu/223&oldid=- (Version vom 31.7.2018)