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Wachsthums, oder, wie Goethe sich ausdrückt, „die Natur ist genöthigt, auf der einen Seite zu öconomisiren, um auf der andern mehr geben zu können.“ Dies paßt in gewisser Ausdehnung, wie mir scheint, ganz gut auf unsere Culturerzeugnisse; denn wenn einem Theile oder Organe Nahrung im Überfluß zuströmt, so fließt sie selten, oder wenigstens nicht in Überfluß, auch einem andern zu; daher kann man eine Kuh z. B. nicht dahin bringen, viel Milch zu geben und zugleich schnell fett zu werden. Ein und dieselbe Kohlvarietät kann nicht eine reichliche Menge nahrhafter Blätter und zugleich einen guten Ertrag von Öl haltenden Samen liefern. Wenn in unserem Obste die Samen verkümmern, gewinnt die Frucht selbst an Größe und Güte. Bei unseren Hühnern ist eine große Federhaube auf dem Kopfe gewöhnlich mit einem großen Kamm und ein großer Bart mit kleinen Fleischlappen verbunden. Dagegen ist kaum anzunehmen, daß dieses Gesetz auch auf Arten im Naturzustande allgemein anwendbar sei, obwohl viele gute Beobachter und namentlich Botaniker an seine Wahrheit glauben. Ich will hier jedoch keine Beispiele anführen, denn ich kann kaum ein Mittel finden, einerseits zwischen der durch natürliche Zuchtwahl bewirkten ansehnlichen Vergrößerung eines Theiles und der durch gleiche Ursache oder durch Nichtgebrauch veranlaßten Verminderung eines anderen und nahe dabei befindlichen Organes, und andererseits der Verkümmerung eines Organes durch Nahrungseinbuße in Folge excessiver Entwickelung eines anderen nahe dabei befindlichen Theiles zu unterscheiden.

Ich vermuthe auch, daß einige der Fälle, die man als Beweise der Compensation vorgebracht hat, sich mit einigen anderen Thatsachen unter ein allgemeines Princip zusammenfassen lassen, das Princip nämlich, daß die natürliche Zuchtwahl fortwährend bestrebt ist, in jedem Theile der Organisation zu sparen. Wenn unter veränderten Lebensverhältnissen eine bisher nützliche Vorrichtung weniger nützlich wird, so dürfte wohl ihre Verminderung begünstigt werden, indem es ja für das Individuum vortheilhaft ist, wenn es seine Säfte nicht zur Ausbildung nutzloser Organe verschwendet. Nur auf diese Weise kann ich eine Thatsache begreiflich finden, welche mich, als ich mit der Untersuchung über die Cirripeden beschäftigt war, überraschte und von welcher noch viele analoge Beispiele angeführt werden könnten, nämlich daß, wenn ein Cirripede an einem andern als Schmarotzer lebt und daher geschützt ist, er

Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe um's Dasein. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1876, Seite 172. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinEntstehung1876.djvu/182&oldid=- (Version vom 31.7.2018)