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sei, wird zweckmäßiger in unserem Capitel über die geologische Aufeinanderfolge der Wesen zu erörtern sein.

Man könnte nun aber einwenden, wie es denn komme, daß, wenn hiernach alle organischen Wesen bestrebt sind, höher auf der Stufenleiter emporzusteigen, auf der ganzen Erdoberfläche noch eine Menge der unvollkommensten Wesen vorhanden sind, und warum in jeder großen Classe einige Formen viel höher als die andern entwickelt sind? Warum haben diese höher ausgebildeten Formen nicht schon überall die minder vollkommenen ersetzt und vertilgt? Lamarck, der an eine angeborene und unvermeidliche Neigung zur Vervollkommnung in allen Organismen glaubte, scheint diese Schwierigkeit so stark gefühlt zu haben, daß er sich zur Annahme veranlaßt sah, einfache Formen würden fortwährend durch Generatio spontanea neu erzeugt. Indessen hat die Wissenschaft auf ihrer jetzigen Stufe diese Annahme noch nicht bewiesen, was auch vielleicht die Zukunft noch enthüllen mag. Nach meiner Theorie dagegen bietet die ununterbrochene Existenz niedrig organisirter Thiere keine Schwierigkeit dar; denn die natürliche Zuchtwahl oder das Überleben des Passendsten schließt denn doch nicht nothwendig fortschreitende Entwickelung ein; sie benützt nur solche Abänderungen, welche auftreten und für jedes Wesen in seinen verwickelten Lebensbeziehungen vortheilhaft sind. Und nun kann man fragen, welchen Vortheil (so weit wir urtheilen können) ein Infusorium, ein Eingeweidewurm, oder selbst ein Regenwurm davon haben könne, hoch organisirt zu sein? Wäre dies kein Vortheil, so würden diese Formen auch durch natürliche Zuchtwahl wenig oder gar nicht vervollkommnet werden und mithin für unendliche Zeiten auf ihrer tiefen Organisationsstufe stehen bleiben. In der That lehrt uns die Geologie, daß einige der niedrigsten Formen, wie Infusorien und Rhizopoden, schon seit unermeßlichen Zeiten nahezu auf ihrer jetzigen Stufe stehen geblieben sind. Demungeachtet möchte es voreilig sein anzunehmen, daß die meisten der vielen jetzt vorhandenen niedrigen Formen seit dem ersten Erwachen des Lebens keinerlei Vervollkommnung erfahren hätten; denn jeder Naturforscher, der je solche Organismen zergliedert hat, welche jetzt für sehr niedrig auf der Stufenleiter der Natur gelten, muß oft über deren wunderbare und herrliche Organisation erstaunt gewesen sein.

Nahezu dieselben Bemerkungen lassen sich hinsichtlich der großen Verschiedenheit zwischen den Graden der Organisationshöhe innerhalb

Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe um's Dasein. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1876, Seite 148. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinEntstehung1876.djvu/158&oldid=- (Version vom 31.7.2018)