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zu sein, nämlich das Maß der Differenzirung der verschiedenen Theile eines und desselben Thieres „im reifen Alter“, wie ich hinzufügen möchte, und ihre Specialisation für verschiedene Verrichtungen, oder Vollständigkeit der Theilung der physiologischen Arbeit, wie H. Milne Edwards sagen würde. Was für ein dunkler Gegenstand dies aber ist, sehen wir, wenn wir z. B. die Fische betrachten, unter denen manche Naturforscher diejenigen am höchsten stellen, welche wie die Haie, sich den Reptilien am meisten nähern, während andere die gewöhnlichen Knochenfische oder Teleosteer als die höchsten ansehen, weil sie die ausgebildeste Fischform haben und am meisten von allen anderen Wirbelthierclassen abweichen. Noch deutlicher erkennen wir die Schwierigkeit, wenn wir uns zu den Pflanzen wenden, wo der von der geistigen Befähigung hergenommene Maßstab natürlich ganz wegfällt; und hier stellen einige Botaniker diejenigen Pflanzen am höchsten, welche sämmtliche Organe, wie Kelch- und Kronenblätter, Staubfäden und Staubwege in jeder Blüthe vollständig entwickelt besitzen, während Andere wohl mit mehr Recht jene für die vollkommensten erachten, deren verschiedene Organe stärker metamorphosirt und auf geringere Zahlen zurückgeführt sind.

Nehmen wir den Betrag der Differenzirung und Specialisirung der einzelnen Organe in jedem Wesen im erwachsenen Zustande als den besten Maßstab für die Höhe der Organisation der Formen an (was mithin auch die fortschreitende Entwickelung des Gehirnes für die geistigen Zwecke mit in sich begreift), so muß die natürliche Zuchtwahl offenbar zur Erhöhung oder Vervollkommnung führen; denn alle Physiologen geben zu, daß die Specialisirung seiner Organe, insofern sie in diesem Zustande ihre Aufgaben besser erfüllen, für jeden Organismus von Vortheil ist; und daher liegt Häufung der zur Specialisirung führenden Abänderungen innerhalb des Zieles der natürlichen Zuchtwahl. Auf der andern Seite sehen wir aber auch, daß es unter Berücksichtigung des Umstandes, daß alle organischen Wesen sich in raschem Verhältnis zu vervielfältigen und jeden noch nicht oder nur schlecht besetzten Platz im Haushalte der Natur einzunehmen streben, der natürlichen Zuchtwahl wohl möglich ist, ein organisches Wesen solchen Verhältnissen anzupassen, wo ihm manche Organe nutzlos oder überflüssig sind, und in derartigen Fällen wird Rückschritt auf der Stufenleiter der Organisation stattfinden. Ob die Organisation im Ganzen seit den frühesten geologischen Zeiten bis jetzt wirklich fortgeschritten

Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe um's Dasein. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1876, Seite 147. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinEntstehung1876.djvu/157&oldid=- (Version vom 31.7.2018)