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Wie flüchtig sind die Wünsche und die Anstrengungen des Menschen! wie kurz ist seine Zeit! wie dürftig werden mithin seine Erzeugnisse denjenigen gegenüber sein, welche die Natur im Verlaufe ganzer geologischer Perioden angehäuft hat! Dürfen wir uns daher wundern, wenn die Naturproducte einen weit „echteren“ Character als die des Menschen haben, wenn sie den verwickeltsten Lebensbedingungen unendlich besser angepaßt sind und das Gepräge einer weit höheren Meisterschaft an sich tragen?

Man kann figürlich sagen, die natürliche Zuchtwahl sei täglich und stündlich durch die ganze Welt beschäftigt, eine jede, auch die geringste Abänderung zu prüfen, sie zu verwerfen, wenn sie schlecht, und sie zu erhalten und zu vermehren, wenn sie gut ist. Still und unmerkbar ist sie überall und allezeit, wo sich die Gelegenheit darbietet, mit der Vervollkommnung eines jeden organischen Wesens in Bezug auf dessen organische und unorganische Lebensbedingungen beschäftigt. Wir sehen nichts von diesen langsam fortschreitenden Veränderungen, bis die Hand der Zeit auf eine abgelaufene Weltperiode hindeutet, und dann ist unsere Einsicht in die längst verflossenen geologischen Zeiten so unvollkommen, daß wir nur noch das Eine wahrnehmen, daß die Lebensformen jetzt andere sind, als sie früher gewesen.

Um irgend einen beträchtlichen Grad von Modification mit der Länge der Zeit bei einer Species hervorzubringen, muß eine einmal aufgetauchte Varietät, wenn auch vielleicht erst nach einem langen Zeitraum, von neuem variiren oder individuelle Verschiedenheiten derselben günstigen Art wie früher darbieten, und diese müssen wieder erhalten werden und so Schritt für Schritt weiter. Wenn man sieht, daß individuelle Verschiedenheiten aller Art beständig vorkommen, so kann dies kaum als eine nicht zu verbürgende Vermuthung angesehen werden. Ob dies aber alles wirklich statt gefunden hat, kann nur danach beurtheilt werden, daß man zusieht, wie weit die Hypothese mit den allgemeinen Erscheinungen der Natur übereinstimmt und sie erklärt. Andererseits beruht aber auch die gewöhnlichere Meinung, daß der Betrag der möglichen Abänderung eine scharf begrenzte Größe sei, auf einer bloßen Voraussetzung.

Obwohl die natürliche Zuchtwahl nur durch und für das Gute eines jeden Wesens wirken kann, so werden doch wohl auch Eigenschaften und Bildungen dadurch berührt, denen wir nur eine untergeordnete

Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe um's Dasein. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1876, Seite 105. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinEntstehung1876.djvu/111&oldid=- (Version vom 31.7.2018)