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wirklich vor. Wir müssen auch dessen eingedenk sein, wie unendlich verwickelt und wie eng zusammenpassend die gegenseitigen Beziehungen aller organischen Wesen zu einander und zu ihren physikalischen Lebensbedingungen sind; und folglich, wie unendlich vielfältige Abänderungen der Structur einem jeden Wesen unter wechselnden Lebensbedingungen nützlich sein können. Kann man es denn, wenn man sieht, daß viele für den Menschen nützliche Abänderungen unzweifelhaft vorgekommen sind, für unwahrscheinlich halten, daß auch andere mehr und weniger einem jeden Wesen selbst in dem großen und zusammengesetzten Kampfe um’s Leben vortheilhafte Abänderungen im Laufe vieler aufeinanderfolgenden Generationen zuweilen vorkommen werden? Wenn solche aber vorkommen, bleibt dann noch zu bezweifeln, (wenn wir uns daran erinnern, daß offenbar viel mehr Individuen geboren werden, als möglicher Weise fortleben können,) daß diejenigen Individuen, welche irgend einen, wenn auch noch so geringen Vortheil vor andern voraus besitzen, die meiste Wahrscheinlichkeit haben, die andern zu überdauern und wieder ihresgleichen hervorzubringen? Andererseits können wir sicher sein, daß eine im geringsten Grade nachtheilige Abänderung unnachsichtlich zur Zerstörung der Form führt. Diese Erhaltung günstiger individueller Verschiedenheiten und Abänderungen und die Zerstörung jener, welche nachtheilig sind, ist es, was ich natürliche Zuchtwahl nenne oder Überleben des Passendsten. Abänderungen, welche weder vortheilhaft noch nachtheilig sind, werden von der natürlichen Zuchtwahl nicht berührt, und bleiben entweder ein schwankendes Element, wie wir es vielleicht in den sogenannten polymorphen Arten sehen, oder werden endlich fixirt in Folge der Natur des Organismus oder der Natur der Bedingungen.

Einige Schriftsteller haben den Ausdruck natürliche Zuchtwahl misverstanden oder unpassend gefunden. Die einen haben selbst gemeint, natürliche Zuchtwahl führe zur Veränderlichkeit, während sie doch nur die Erhaltung solcher Abänderungen einschließt, welche dem Organismus in seinen eigenthümlichen Lebensbeziehungen von Nutzen sind. Niemand macht dem Landwirth einen Vorwurf daraus, daß er von den großen Wirkungen der Zuchtwahl des Menschen spricht, und in diesem Falle müssen die von der Natur dargebotenen individuellen Verschiedenheiten, welche der Mensch in bestimmter Absicht zur Nachzucht wählt, nothwendiger Weise zuerst überhaupt vorkommen. Andere haben eingewendet, daß der Ausdruck Wahl ein bewußtes Wählen

Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe um's Dasein. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1876, Seite 101. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinEntstehung1876.djvu/107&oldid=- (Version vom 31.7.2018)