Nichtsdestoweniger bestehen, soweit ich es nachzuweisen im Stande bin, keine Gründe für die Annahme, daß irgend ein Muskel ausschließlich zum Zwecke des Ausdrucks entwickelt oder auch nur modificirt worden wäre. Die Stimmorgane und die andern lauterzeugenden Werkzeuge, durch welche verschiedene ausdrucksvolle Geräusche hervorgebracht werden, scheinen eine theilweise Ausnahme zu bilden; ich habe aber an einem andern Orte zu zeigen versucht, daß diese Organe anfangs zu sexuellen Zwecken entwickelt wurden, damit das eine Geschlecht das andere rufen oder bezaubern könne. Ich kann auch keine Gründe für die Annahme ausfindig machen, daß irgend eine vererbte Bewegung, welche jetzt als ein Mittel des Ausdrucks dient, ursprünglich willkürlich und bewußt zur Erreichung dieses speciellen Zweckes ausgeführt worden wäre, — wie einige der Geberden und die von Taubstummen benutzte Fingersprache. Im Gegentheil scheint jede echte oder vererbte Bewegung des Ausdrucks irgend einen natürlichen oder unabhängigen Ursprung gehabt zu haben. Waren aber derartige Bewegungen einmal erlangt, so können sie willkürlich und bewußterweise als Hülfsmittel der gegenseitigen Mittheilung angewendet werden. Selbst kleine Kinder finden es in einem sehr frühen Alter heraus, wenn sie sorgfältig gewartet werden, daß ihre Schreianfälle ihnen Erleichterung herbeiführen, und üben dann das Schreien bald willkürlich aus. Wir können häufig sehen, wie Jemand unwillkürlich seine Augenbrauen erhebt, um Überraschung auszudrücken, oder lächelt, um vermeintliche Befriedigung und Genugthuung auszudrücken. Häufig wünscht Jemand gewisse Geberden auffällig oder demonstrativ zu machen; dann hebt er seine ausgestreckten Arme mit weit von einander gespreizten Fingern über seinen Kopf, um Erstaunen zu zeigen, oder zieht seine Schultern bis an die Ohren in die Höhe, um zu zeigen, daß er irgend etwas nicht thun kann oder nicht thun will. Die Neigung zu derartigen Bewegungen wird dadurch verstärkt oder erhöht werden, daß dieselben in der angegebenen Weise willkürlich und wiederholt ausgeführt werden; auch können die Wirkungen vererbt werden.
Es ist vielleicht einer Betrachtung werth, ob sich nicht gewisse Bewegungen, welche anfänglich nur von einem oder von wenigen Individuen dazu benutzt wurden, einen gewissen Seelenzustand auszudrücken, zuweilen auf andere Individuen verbreitet haben und schließlich durch die Gewalt der bewußten wie der unbewußten Nachahmung
Charles Darwin: Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei dem Menschen und den Thieren. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1877, Seite 326. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAusdruck.djvu/346&oldid=- (Version vom 31.7.2018)