Die Empfindungen, welche man zärtlich nennt, sind schwer zu analysiren; sie scheinen aus Zuneigung, Freude und besonders aus Sympathie zusammengesetzt zu sein. Diese Empfindungen sind an sich von einer Vergnügen erregenden Natur, ausgenommen wenn das Mitleid zu tief ist oder Entsetzen erregt wird, wie bei der Nachricht, daß ein Mensch oder Thier gequält worden ist. Von unserem vorliegenden Gesichtspunkte aus sind sie deshalb merkwürdig, als sie so leicht die Absonderung von Thränen hervorrufen. So mancher Vater und Sohn hat beim Wiedersehen nach einer langen Trennung geweint, besonders wenn die Begegnung unerwartet war. Ohne Zweifel hat die äußerste Freude an sich die Neigung, auf die Thränendrüsen einzuwirken. Aber bei solchen Veranlassungen, wie der eben erwähnten, werden auch unbestimmte Gedanken an den Kummer, welcher empfunden worden wäre, wenn sich der Vater und Sohn niemals getroffen hätten, wahrscheinlich durch die Seele gezogen sein, und Kummer führt naturgemäß zur Absonderung von Thränen. So heißt es bei der Rückkehr des Ulysses:
„Aber der Jüngling Schlang um den herrlichen Vater sich schmerzvoll Thränen vergießend.
Beiden regte sich jetzo des Grams wehmüthige Sehnsucht.
* * * Also nun zum Erbarmen vergossen sie Thränen der Wehmuth.
Ja den Klagenden wäre das Licht der Sonne gesunken,
Hätte Telemachos nicht alsbald zum Vater geredet.“
Odyssee, Übers, von J. H. Voss. XVI. Ges. V. 213 flgde.
Ferner heißt es von der Penelope, als sie endlich ihren Gatten wiedererkannte:
„Ihr aber erzitterten Herz und Kniee, Da sie die Zeichen erkannt, die genau ihr verkündet Odysseus.
Weinend lief sie hinan und achlang sich mit offenen Armen
Ihrem Gemahl um den Hals, und das Haupt ihm küssend begann sie.“
ebenda XXIII. Ges. V. 205—208.
Die lebhafte Rückerinnerung an unsere frühere Heimat oder an längst vergangene glückliche Zeiten verursacht sehr leicht die Füllung unserer Augen mit Thränen. Aber auch hier tritt sehr naturgemäß der Gedanke ein, daß diese Zeiten niemals wiederkehren werden. In derartigen Fällen können wir sagen, daß wir mit uns selbst in unserm jetzigen Zustande sympathisiren im Vergleich mit unserm frühern
Charles Darwin: Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei dem Menschen und den Thieren. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1877, Seite 197. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAusdruck.djvu/209&oldid=- (Version vom 31.7.2018)