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den meisten unsrer geistigen Fähigkeiten glichen. Wenn kein organisches Wesen ausser dem Menschen irgendwelche geistige Fähigkeiten besessen hätte, oder wenn seine Fähigkeiten von einer völlig verschiedenen Natur wären im Vergleich mit denen der niederen Thiere, so würden wir nie im Stande gewesen sein, uns zu überzeugen, dass unsere hohen Fähigkeiten allmählich entwickelt worden sind. Es lässt sich aber deutlich nachweisen, dass kein fundamentaler Unterschied dieser Art besteht. Wir müssen auch zugeben, dass ein viel weiterer Abstand in den geistigen Fähigkeiten zwischen einem der niedrigsten Fische, wie der Pricke oder einem Amphioxus, und dem der höheren Affen besteht, als zwischen dem Affen und dem Menschen: und doch wird diese Lücke durch zahllose Abstufungen ausgefüllt.

Auch ist in Bezug auf die moralischen Anlagen der Unterschied zwischen einem Barbaren, wie dem von dem alten Seefahrer Byron beschriebenen Mann, welcher sein Kind an den Felsen zerschlug, weil es einen Korb mit Seeigeln hatte fallen lassen, und einem Howard oder Clarkson nicht klein, ebensowenig der Unterschied, in Bezug auf den Verstand, zwischen einem Wilden, der keine abstracten Ausdrücke gebraucht, und einem Newton oder Shakespeare. Verschiedenheiten dieser Art zwischen den grössten Männern der höchsten Rassen und den niedrigsten Wilden werden durch die feinsten Abstufungen mit einander verbunden. Es ist daher auch möglich, dass sie in einander übergehen und aus einander sich entwickeln können.

Ich beabsichtige in diesem Capitel nun zu zeigen, dass zwischen dem Menschen und den höheren Säugethieren kein fundamentaler Unterschied in Bezug auf ihre geistigen Fähigkeiten besteht. Jeder Abschnitt dieses Gegenstandes hätte sich zu einer besonderen Abhandlung ausdehnen lassen, muss aber hier nur kurz behandelt werden. Da keine Eintheilung der geistigen Fähigkeiten ganz allgemein angenommen worden ist, werde ich meine Bemerkungen in einer meinen Zwecken am meisten dienenden Weise anordnen und werde diejenigen Thatsachen auswählen, welche mich am meisten frappirt haben, in der Hoffnung, dass sie auch auf den Leser ihre Wirkung äussern werden.

In Bezug auf die sehr tief auf der Stufenleiter stehenden Thiere werde ich noch einige weitere Thatsachen in dem Abschnitt über geschlechtliche Zuchtwahl zu geben haben, welche zeigen werden, dass ihre geistigen Fähigkeiten viel bedeutender sind, als man hätte erwarten können. Die Veränderlichkeit dieser Fähigkeiten bei Individuen einer


Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, I. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 85. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch1.djvu/99&oldid=- (Version vom 31.7.2018)