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jedes einzelne Glied über die anderen Glieder derselben Gesellschaft keinen Vortheil erlangen mag. Bei gesellig lebenden Insecten sind viele merkwürdige Bildungs-Eigenthümlichkeiten, welche dem Individuum von geringem oder gar keinem Nutzen sind, wie z. B. der pollensammelnde Apparat oder der Stachel der Arbeiterbienen oder die grossen Kiefer der Soldatenameisen, erlangt worden. Von den höheren gesellig lebenden Thieren ist mir nicht bekannt, dass irgendwelche Bildungs-Eigenthümlichkeit nur zum Besten der ganzen Gesellschaft modificirt worden wäre, wenn auch einige für dieselbe von secundärem Nutzen sind. So scheinen z. B. die Hörner der Wiederkäuer und die grossen Eckzähne der Paviane von den Männchen als Waffen für den geschlechtlichen Kampf erlangt worden zu sein, sie werden aber auch zur Vertheidigung der Heerde oder Truppe benutzt. Was gewisse geistige Fähigkeiten betrifft, so liegt der Fall, wie wir im fünften Capitel sehen werden, gänzlich verschieden; denn diese Fähigkeiten sind hauptsächlich oder selbst ausschliesslich zum Nutzen der Gesellschaft erlangt worden, wobei die Individuen, welche die Gesellschaft zusammensetzen, zu derselben Zeit indirect eine Begünstigung erfahren haben.

Den im Vorstehenden entwickelten Ansichten ist oft entgegengehalten worden, dass der Mensch eines der hülflosesten und vertheidigungslosesten Geschöpfe in der Welt ist, und dass er während seines frühen und weniger gut entwickelten Zustandes noch hülfloser gewesen sein wird. Der Herzog von Argyll[1] behauptet z. B., „dass der menschliche Körperbau von der Bildung der Thiere in einer Richtung grosser physischer Hülflosigkeit und Schwäche abgewichen ist; d. h. es ist eine Divergenz eingetreten, welche von allen Uebrigen am unmöglichsten blosser natürlicher Zuchtwahl zugeschrieben werden kann“. Er führt an: den nackten und unbeschützten Zustand des Körpers, das Fehlen grosser Zähne oder Krallen zur Vertheidigung, die geringe Körperkraft des Menschen, seine geringe Schnelligkeit im Rennen und seine geringe Fähigkeit, durch den Geruchssinn Nahrung zu finden oder Gefahren zu vermeiden. Diesen Mangelhaftigkeiten hätte sich noch der noch bedenklichere Verlust der Fähigkeit, schnell Bäume zu erklettern und dadurch vor Feinden zu entfliehen, hinzufügen lassen. Der Verlust des Haarkleides wird für die Bewohner eines warmen Landes keine grosse


  1. Primeval man 1869, p. 66.
Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, I. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 81. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch1.djvu/95&oldid=- (Version vom 31.7.2018)