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erschaffen worden sei, vollständig zu beseitigen, und dies führte mich zu der stillschweigenden Annahme, dass jedes einzelne Structurdetail, mit Ausnahme der Rudimente, von irgendwelchem speciellen, wenn auch unerkannten Nutzen sei. Mit dieser Annahme im Sinne würde wohl ganz natürlich Jedermann die Wirkung der natürlichen Zuchtwahl, sei es während früherer oder jetziger Zeiten, zu hoch anschlagen. Einige von Denen, welche das Princip der Evolution annehmen, aber natürliche Zuchtwahl verwerfen, scheinen zu vergessen, während sie mein Buch kritisiren, dass ich die beiden eben erwähnten Absichten vor Augen hatte. Wenn ich daher auch darin geirrt haben sollte, dass ich der natürlichen Zuchtwahl eine grosse Kraft zuschrieb, was ich aber durchaus nicht zugebe, oder dass ich ihren Einfluss übertrieben hätte, was an sich wahrscheinlich ist, so habe ich, wie ich hoffe, wenigstens dadurch etwas Gutes gestiftet, dass ich beigetragen habe, das Dogma einzelner Schöpfungen umzustossen.

Dass alle organischen Wesen mit Einschluss des Menschen viele Modifikationen des Körperbaus darbieten, welche für dieselben weder jetzt von irgend einem Nutzen sind, noch es früher gewesen sind und daher keine physiologische Bedeutung haben, ist, soviel ich jetzt erkennen kann, wahrscheinlich. Wir wissen nicht, was die zahllosen unbedeutenden Verschiedenheiten zwischen den Individuen einer jeden Species hervorbringt; denn der Rückschlag verlegt das Problem nur wenige Schritte rückwärts; und doch muss jede Eigenthümlichkeit ihre eigene wirksame Ursache gehabt haben. Sollten diese Ursachen, welcher Art sie auch gewesen sein mögen, gleichförmiger und energischer längere Zeit hindurch wirken (und es lässt sich kein Grund dafür annehmen, warum dies nicht zuweilen eintreten sollte), so würde das Resultat das Auftreten nicht bloss einer unbedeutenden individuellen Verschiedenheit, sondern einer scharf markirten, constanten Modifikation sein, wenn auch eine Modifikation ohne physiologische Bedeutung. Structurveränderungen nun, welche in keiner Weise wohlthätig sind, können durch natürliche Zuchtwahl nicht gleichförmig gehalten werden, wennschon alle solche, welche nachtheilig sind, durch dieselbe werden beseitigt werden. Indessen würde Gleichförmigkeit der Charactere natürliche Folge der angenommenen Gleichförmigkeit der anregenden Ursachen sein, wie auch in gleicher Weise Folge der ungehinderten Kreuzung vieler Individuen. Derselbe Organismus kann daher auf diese Weise im Verlauf aufeinanderfolgender Zeiträume nach

Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, I. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 79. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch1.djvu/93&oldid=- (Version vom 31.7.2018)