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Jahreszeiten abhängen, so müssen alle Stämme in ihrer Zahl schwanken, sie können nicht stätig und regelmässig zunehmen, da für die Versorgung mit Nahrung keine künstliche Zufuhr eintritt. Gelangen Wilde in Noth, so greifen sie gegenseitig in ihre Territorien über und das Resultat ist Krieg; doch sind sie in der That fast immer mit ihren Nachbarn in Krieg. Zu Wasser und zu Lande sind sie bei ihren Bemühungen um Nahrung vielen Zufällen ausgesetzt, und in manchen Ländern müssen sie auch von den grösseren Raubthieren viel leiden. Selbst in Indien sind manche Districte durch die Räubereien der Tiger geradezu entvölkert worden.

Malthus hat diese verschiedenen Hindernisse erörtert; er betont aber dasjenige nicht stark genug, welches wahrscheinlich das bedeutungsvollste von allen ist, nämlich Kindesmord, und besonders die Tödtung weiblicher Kinder, und die Gewohnheit, Fehlgeburten zu veranlassen. Diese Gebräuche herrschen jetzt in vielen Theilen der Erde, und früher scheint Kindesmord, wie Mr. M'Lennan[1] gezeigt hat, in einem noch ausgedehnteren Grade geherrscht zu haben. Diese Gebräuche scheinen bei Wilden dadurch entstanden zu sein, dass sie die Schwierigkeit oder vielmehr die Unmöglichkeit eingesehen haben, alle Kinder, welche geboren werden, zu erhalten. Zügelloses Leben kann auch noch zu den obenerwähnten Hindernissen hinzugerechnet werden; doch ist dies keine Folge des Mangels an Subsistenzmitteln, obschon Grund zu der Annahme vorhanden ist, dass es in manchen Fällen (wie z. B. in Japan) absichtlich ermuntert worden ist, als ein Mittel, die Bevölkerung niedrig zu erhalten.

Wenn wir auf eine äusserst frühe Zeit zurückblicken, ehe der Mensch die Würde der Menschlichkeit erreicht hatte, so sehen wir, dass er mehr durch Instinct und weniger durch Vernunft geleitet worden sein wird als die Wilden zur jetzigen Zeit. Unsere frühen halbmenschlichen Vorfahren werden den Gebrauch des Kindesmords nicht ausgeübt haben; denn die Instincte der niederen Thiere sind nie so verkehrt,[2] dass sie dieselben regelmässig zur Zerstörung ihrer eigenen


  1. Primitive Marriage. 1865.
  2. Der Verfasser eines Artikels im „Spectator“ (12. March, 1871, p. 320) macht über diese Stelle die folgenden Bemerkungen: — „Darwin sieht sich gezwungen, eine neue Theorie über den Sündenfall des Menschen einzuführen. Er weist nach, dass die Instincte der höheren Thiere viel edler sind, als die Gewohnheiten wilder Menschenrassen, und sieht sich daher dazu getrieben, die Theorie wieder
Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, I. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 59. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch1.djvu/73&oldid=- (Version vom 31.7.2018)