Seite:DarwinAbstammungMensch1.djvu/44

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

dieser Stelle will ich nur einige Beispiele solcher Rudimente anführen. Es ist allgemein bekannt, dass bei den Männchen aller Säugethiere, mit Einschluss des Menschen, rudimentäre Brustdrüsen vorhanden sind; diese haben sich in mehreren Fällen vollständig entwickelt und haben eine reichliche Menge von Milch gegeben. Ihre wesentliche Identität bei beiden Geschlechtern zeigt sich gleichfalls durch ihre sympathische Vergrösserung bei beiden während der Masern. Die sogenannte Vesicula prostatica, welche bei vielen männlichen Säugethieren beobachtet worden ist, ist jetzt ganz allgemein für das Homologon des weiblichen Uterus in Verbindung mit dem damit verbundenen Kanal anerkannt worden. Man kann unmöglich Leuckart's klare Beschreibung des Organs und seine Betrachtungen darüber lesen, ohne die Richtigkeit seiner Folgerungen zuzugeben. Dies wird besonders bei denjenigen Säugethieren deutlich, bei welchen der weibliche Uterus sich gabelförmig theilt; denn bei den Männchen derselben ist die Vesicula prostatica in gleicher Weise getheilt.[1] Es liessen sich noch andere rudimentäre Bildungen, die zu dem Fortpflanzungssystem gehören, hier anführen.[2]

Die Tragweite der drei grossen, jetzt mitgetheilten Classen von Thatsachen ist nicht miszudeuten. Es würde aber überflüssig sein, hier die ganzen Folgerungen, welche ich im Einzelnen in meiner „Entstehung der Arten“ gegeben habe, zu wiederholen. Die homologe Bildung des ganzen Körpers bei den Gliedern einer und derselben Classe ist sofort verständlich, wenn wir ihre Abstammung von einem gemeinsamen Urerzeuger und gleichzeitig ihre spätere Anpassung an verschieden gewordene Bedingungen annehmen. Nach jeder anderen Ansicht ist die Aehnlichkeit der Form zwischen der Hand eines Menschen oder eines Affen und dem Fusse eines Pferdes, der Flosse einer Robbe, dem Flügel einer Fledermaus u. s. w. völlig unerklärlich.[3] Es ist keine wissenschaftliche


  1. Leuckart, in Todd's Cyclopaedia of Anatomy. 1849 — 52. Vol. IV. p. 1415. Beim Menschen ist dies Organ nur von drei bis sechs Linien lang, ist aber, wie so viele anderen rudimentären Organe, in Bezug auf seine Entwickelung, wie auf andere Merkmale, variabel.
  2. s. hierüber Owen, Anatomy of Vertebrates. Vol. III, p. 675, 676, 706.
  3. In einem neuerdings erschienenen und mit ausgezeichneten Illustrationen ausgestatteten Werke (La Théorie Darwinienne et la création dite indépendante, 1874) bemüht sich Prof. Bianconi nachzuweisen, dass in dem obigen wie in andern Fällen homologe Bildungen vollständig nach mechanischen Grundsätzen unter Berücksichtigung ihres Gebrauchs erklärt werden können. Niemand hat so gut gezeigt, wie wunderbar derartige Bildungen ihren Zwecken angepasst sind; diese Anpassung lässt sich, wie ich glaube, durch natürliche Zuchtwahl erklären. Bei Betrachtung des Fledermausflügels wendet er (S. 218) etwas an, was mir wie ein (um Auguste Comte's Worte zu brauchen) bloss metaphysisches Princip erscheint, nämlich „die Erhaltung der Säugethiernatur des Thieres in ihrer Integrität“. Nur in einigen wenigen Fällen bespricht er Rudimente und dann auch nur solche Theile, welche theilweise rudimentär sind, wie die Afterklauen des Schweins und Ochsen, welche den Boden nicht berühren; von diesen weist er klar nach, dass sie dem Thiere von Nutzen sind. Unglücklicherweise betrachtet er solche Fälle gar nicht, wie die kleinen nie das Zahnfleisch durchbrechenden Zähne des Ochsen, oder die Milchdrüsen männlicher Säugethiere, oder die Flügel gewisser Käfer, die unter den verwachsenen Flügeldecken liegen, oder die Rudimente der Pistille und Staubfäden in gewissen Blüthen, und viele andere derartige Fälle. Obgleich ich Professor Bianconi's Werk grosse Bewunderung zolle, scheint mir doch die jetzt von den meisten Naturforschern getheilte Ansicht, dass homologe Bildungen nach dem Principe einfacher Anpassung unerklärlich seien, unerschüttert geblieben zu sein.
Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, I. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1878, Seite 30. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch1.djvu/44&oldid=- (Version vom 31.7.2018)