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primäre Organe[1] angesehen werden müssen, „ist es,“ wie Mr. B. D. Walsh[2] bemerkt hat, „erstaunlich, wie viele verschiedene Organe von der Natur zu dem scheinbar unbedeutenden Zwecke umgestaltet worden sind, dass das Männchen das Weibchen festzuhalten im Stande sei.“ Die Kinnladen oder Mandibeln werden zuweilen zu diesem Zwecke benutzt. So hat das Männchen von Corydalis cornuta, einem mit den Libellen u. s. w. ziemlich nahe verwandten Insect aus der Ordnung der Neuroptern, ungeheure gekrümmte Kiefer, welche viele Male länger als die des Weibchens sind; auch sind sie glatt, statt gezähnt zu sein, wodurch das Männchen in den Stand gesetzt wird, das Weibchen ohne Verletzung festzuhalten.[3] Einer der Hirschkäfer von Nordamerica (Lucanus elaphus) gebraucht seine Kiefer, welche viel grösser als die des Weibchens sind, zu demselben Zwecke, aber wahrscheinlich auch zum Kampfe. Bei einer der Sandwespen (Ammophila) sind die Kiefer in beiden Geschlechtern nahezu gleich, werden aber für verschiedene Zwecke gebraucht. Die Männchen sind, wie Professor Westwood bemerkt, „ausserordentlich hitzig und ergreifen ihre Genossen mit ihren sichelförmigen Kiefern um den Hals“,[4] während die Weibchen diese Organe zum Graben in Sandbänken und zum Bauen ihrer Nester benutzen.

Die Tarsen der Vorderfüsse sind bei vielen männlichen Käfern verbreitert oder mit breiten Haarpolstern versehen und bei vielen


  1. Diese Organe der Männchen sind häufig bei nahe verwandten Species verschieden und bieten ausgezeichnete specifische Merkmale dar. Doch ist von einem functionellen Gesichtspunkte aus, wie mir Mr. R. MacLachlan bemerkt hat, ihre Bedeutsamkeit wahrscheinlich überschätzt worden. Es ist die Vermuthung aufgestellt worden, dass unbedeutende Verschiedenheiten in diesen Organen genügen würden, die Kreuzung gut ausgesprochener Varietäten oder beginnender Species zu verhindern, und daher die Entwicklung solcher befördern würden. Dass dies aber schwerlich der Fall sein kann, können wir aus den vielen mitgetheilten Fällen schliessen, wo verschiedene Species in der Begattung gesehen worden sind (s. z. B. Bronn, Geschichte der Natur. Bd. 2. 1843, S. 164 und Westwood, in: Transact. Entomol. Soc. Vol. III. 1842, p. 195). Mr. MacLachlan theilt mir mit (s. Stettiner Entomolog. Zeitung. 1867, S. 155), dass, als von Dr. Aug. Meyer mehrere Species von Phryganiden, welche scharf ausgesprochene Verschiedenheiten dieser Art darbieten, zusammen gefangen gehalten wurden, sie sich begatteten und das eine Paar befruchtete Eier producirte.
  2. The Practical Entomologist. Philadelphia. Vol. II. May, 1867. p. 88.
  3. Mr. Walsh, a. a. O. p. 107.
  4. Modern Classification of Insects. Vol. II. 1840, p. 205, 206. Mr. Walsh, welcher meine Aufmerksamkeit auf diesen doppelten Gebrauch der Kinnladen lenkte, sagt, dass er wiederholt diese Thatsache beobachtet habe.
Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, I. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 361. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch1.djvu/375&oldid=- (Version vom 31.7.2018)