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Raupenzustande eine grössere Anzahl von Männchen als Weibchen aufgezogen haben.

Ausser der beweglicheren Lebensweise der Männchen, ihrem zeitigeren Verlassen der Cocons und dem Vorzug, den sie in manchen Fällen offenen Plätzen geben, können noch andere Ursachen für die scheinbare oder wirkliche Verschiedenheit in den proportionalen Zahlen der beiden Geschlechter bei den Lepidoptern angeführt werden und zwar sowohl wenn sie im Imagozustande gefangen, als auch wenn sie aus dem Ei oder dem Raupenzustande aufgezogen werden. Viele Züchter in Italien sind, wie ich von Prof. Canestrini höre, der Meinung, dass die weibliche Raupe des Seidenschmetterlings mehr von der neuerdings aufgetretenen Krankheit leidet als die männliche; und Dr. Staudinger theilt mir mit, dass beim Aufziehen von Schmetterlingen mehr Weibchen im Cocon sterben als Männchen. Bei vielen Species ist die weibliche Raupe grösser als die männliche; ein Sammler wird aber natürlich die schönsten Exemplare auswählen und daher unbeabsichtigter Weise eine grössere Zahl von Weibchen sammeln. Drei Sammler haben mir erzählt, dass sie dies allerdings in der Gewohnheit hätten; Dr. Wallace ist indessen überzeugt, dass die meisten Sammler alle Exemplare von den selteneren Arten nehmen, welche sie finden können, da diese allein der Mühe des Aufziehens werth sind. Haben Vögel eine grössere Zahl von Raupen um sich herum, so werden sie wahrscheinlich die grösseren verschlingen; auch theilt mir Professor Canestrini mit, dass in Italien einige Züchter, allerdings aber auf unzureichende Beweise gestützt, der Ansicht sind, dass in der ersten Zucht des Ailanthus-Seidenspinners die Wespen eine grössere Zahl weiblicher als männlicher Raupen zerstören. Dr. Wallace bemerkt ferner, dass die weiblichen Raupen, weil sie grösser als die männlichen sind, mehr Zeit zu ihrer Entwickelung brauchen und mehr Nahrung und Feuchtigkeit zu sich nehmen; sie werden dadurch während einer längeren Zeit der Gefahr, von Ichneumonen, Vögeln u. s. w. zerstört zu werden, ausgesetzt sein und in Zeiten des Mangels in grösserer Zahl umkommen. Es erscheint daher ganz gut möglich, dass im Naturzustande weniger weibliche Lepidoptern den Reifezustand erreichen, als männliche; und für unseren speciellen Zweck haben wir es mit den Zahlen im Reifezustand zu thun, wenn die Geschlechter bereit sind, ihre Art fortzupflanzen.

Die Art und Weise, in welcher die Männchen gewisser Schmetterlinge sich in ausserordentlichen Massen um ein einziges Weibchen ansammeln, weist dem Anscheine nach auf einen bedeutenden Ueberschuss an Männchen hin; doch kann diese Thatsache wohl vielleicht auch dadurch erklärt werden, dass die Männchen zeitiger ihre Puppenhülse durchbrechen. Mr. Stainton theilt mir mit, man könne oft sehen, wie zwölf bis zwanzig Männchen sich um ein einziges Weibchen von Elachista rufocinerea versammeln. Es ist bekannt, dass, wenn man eine jungfräuliche Lasiocampa quercus oder Saturnia carpini in einem Behältnisse an die Luft setzt, sich in grosser Anzahl Männchen um sie her versammeln, und ist sie in einem Zimmer eingeschlossen, so kommen die Männchen selbst (in England) durch den Kamin zu ihr. Mr. Doubleday glaubt sich erinnern zu können, dass er an fünfzig bis hundert Männchen von jeder der beiden oben erwähnten Species im Verlaufe eines einzigen Tages von einem gefangen


Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, I. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 330. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch1.djvu/344&oldid=- (Version vom 31.7.2018)