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sehen wir, dass Merkmale der Eltern oft oder selbst allgemein geneigt sind, sich bei demselben Geschlecht in dem nämlichen Alter und periodisch in derselben Jahreszeit, in welcher sie zuerst bei den Eltern auftraten, zu entwickeln. Diese Regeln sind aber in Folge unbekannter Ursachen bei weitem nicht fixirt. Die aufeinanderfolgenden Stufen während der Modifikation einer Species können daher leicht auf verschiedenen Wegen überliefert werden; einige dieser Stufen werden nur auf ein Geschlecht, andere auf beide vererbt, einige auf die Nachkommen eines bestimmten Alters und einige andere auf alle Altersstufen. Es sind nicht bloss die Gesetze der Vererbung äusserst complicirt, sondern es sind auch die Ursachen so, welche die Variabilität herbeiführen und beherrschen. Die auf diese Weise verursachten Abänderungen werden durch geschlechtliche Zuchtwahl aufbewahrt und angehäuft, welche an sich wieder eine äusserst complicirte Angelegenheit ist, da sie von der Gluth der Liebe, dem Muthe und der Nebenbuhlerschaft der Männchen ebensowohl wie von dem Wahrnehmungsvermögen, dem Geschmacke und dem Willen der Weibchen abhängt. Geschlechtliche Zuchtwahl wird auch bedeutend von der auf das allgemeine Wohlsein der Species gerichteten natürlichen Zuchtwahl beherrscht. Es kann daher nicht anders sein, als dass die Art und Weise, in welcher die Individuen eines von beiden Geschlechtern oder beider Geschlechter durch geschlechtliche Zuchtwahl beeinflusst worden sind, im äussersten Grade complicirt ist.

Wenn Abänderungen spät im Leben bei einem Geschlechte auftreten und auf dasselbe Geschlecht in demselben Alter überliefert werden, so werden nothwendigerweise das andere Geschlecht und die Jungen unverändert bleiben. Treten die Abänderungen spät im Leben auf, werden sie aber auf beide Geschlechter in demselben Alter vererbt, so werden nur die Jungen unverändert gelassen. Indessen können Abänderungen auf jeder Periode des Lebens in einem Geschlechte oder in beiden auftreten und auf beide Geschlechter in allen Altersstufen überliefert werden, und dann werden alle Individuen der Art in ähnlicher Weise modificirt werden. In den folgenden Capiteln werden wir sehen, dass alle diese Fälle im Naturzustande häufig auftreten.

Geschlechtliche Zuchtwahl kann niemals auf irgend ein Thier wirken, bevor nicht das Alter der Reproduction erreicht ist. In Folge der grossen Begierde des Männchens hat sie meistens auf dieses Geschlecht und nicht auf die Weibchen gewirkt. Hierdurch sind die


Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, I. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 315. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch1.djvu/329&oldid=- (Version vom 31.7.2018)