Bei den verschiedenen domesticirten Schafen, Ziegen und Rindern weichen die Männchen von ihren respectiven Weibchen in der Form oder der Entwickelung ihrer Hörner, ihrer Stirn, ihrer Mähne, ihrer Wamme, ihres Schwanzes und ihrer Höcker auf den Schultern ab; und in Uebereinstimmung mit unserem Gesetze werden diese Eigenthümlichkeiten nicht eher vollständig entwickelt, als ziemlich spät im Leben. Bei Hunden weichen die Geschlechter nicht von einander ab, ausgenommen darin, dass bei gewissen Rassen, besonders bei dem schottischen Hirschhunde, das Männchen viel grösser und schwerer als das Weibchen ist. Und wie wir in einem späteren Capitel sehen werden, nimmt das Männchen bis zu einer ungewöhnlich späten Lebenszeit beständig an Grösse zu, welcher Umstand nach unserer Regel es erklären wird, dass die bedeutendere Grösse nur seinen männlichen Nachkommen vererbt wird. Andrerseits ist die dreifarbige Beschaffenheit des Haares (tortoise-shell), welche auf weibliche Katzen beschränkt ist, schon bei der Geburt völlig deutlich, und dieser Fall streitet gegen unser Gesetz. Es gibt eine Taubenrasse, bei welcher nur die Männchen mit Schwarz gestreift sind, und die Streifen können selbst bei Nestlingen schon nachgewiesen werden; sie werden aber deutlicher mit jeder später eintretenden Mauserung, so dass dieser Fall zum Theil unserer Regel widerspricht, zum Theil sie unterstützt. Bei der englischen Botentaube und dem Kröpfer tritt die völlige Entwickelung der Fleischlappen und des Kropfes ziemlich spät im Leben ein; und diese Charactere werden in Uebereinstimmung mit unserem Gesetze in Vollkommenheit nur den Männchen vererbt. Die folgenden Fälle gehören vielleicht in die früher erwähnte Classe, bei welcher die beiden Geschlechter in einer und derselben Art und Weise auf einer ziemlich späten Periode des Lebens variirt und in Folge dessen ihre neuen Merkmale auf beide Geschlechter in einer entsprechend späten Periode vererbt haben; und wenn dies der Fall ist, so widersprechen derartige Fälle unserer Regel nicht. Es gibt Unterrassen der Tauben, welche Neumeister[1] beschrieben hat, bei denen beide Geschlechter im Verlaufe von zwei oder drei Mauserungen die Farbe verändern, wie es in gleicher Weise auch der Mandelpurzler thut. Nichtsdestoweniger sind diese Veränderungen, trotzdem sie ziemlich spät im Leben auftreten,
- ↑ Das Ganze der Taubenzucht. 1837, S. 21, 24. In Bezug auf die gestreiften Tauben s. Dr. Chapuis, Le Pigeon Voyageur Belge, 1865, p. 87.
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, I. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 312. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch1.djvu/326&oldid=- (Version vom 31.7.2018)