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doch häufig zwei Regeln zu gelten: nämlich, dass Abänderungen, welche zuerst in einem von beiden Geschlechtern in einer späteren Lebenszeit auftreten, sich bei demselben Geschlechte zu entwickeln neigen, während Abänderungen, welche zeitig im Leben in einem der beiden Geschlechter zuerst auftreten, zu einer Entwickelung in beiden Geschlechtern neigen. Ich bin indessen durchaus nicht gemeint, hierin die einzige bestimmende Ursache zu erblicken. Da ich nirgends anders diesen Gegenstand erörtert habe und er eine bedeutende Tragweite in Bezug auf geschlechtliche Zuchtwahl hat, so muss ich hier in ausführliche und etwas intricate Einzelnheiten eingehen.

Es ist an sich wahrscheinlich, dass irgend ein Character, welcher in frühem Alter auftritt, zu einer gleichmässig auf beide Geschlechter stattfindenden Vererbung neigt. Denn die Geschlechter weichen der Constitution nach nicht sehr von einander ab, ehe das Reproductionsvermögen von ihnen erlangt ist. Ist auf der andern Seite dieses Vermögen eingetreten und haben die Geschlechter begonnen, ihrer Constitution nach von einander abzuweichen, so werden die Keimchen (wenn ich mich hier der Sprechweise der Hypothese der Pangenesis bedienen darf), welche von jedem variirenden Theile in dem einen Geschlechte abgestossen werden, viel wahrscheinlicher die gehörigen Wahlverwandtschaften besitzen, um sich mit den Geweben des gleichnamigen Geschlechts zu verbinden und sich demzufolge zu entwickeln, und zwar mehr mit diesen, als mit denjenigen des andern Geschlechts.

Zu der Annahme, dass eine Beziehung dieser Art existire, wurde ich zuerst durch die Thatsache geführt, dass, sobald nur immer in irgendwelcher Weise das erwachsene Männchen von dem erwachsenen Weibchen verschieden geworden ist, das erstere in derselben Weise auch von den Jungen beider Geschlechter verschieden ist. Die Allgemeinheit dieser Thatsache ist durchaus merkwürdig. Sie gilt für beinahe alle Säugethiere, Vögel, Amphibien und Fische, auch für viele Crustaceen, Spinnen und einige wenige Insecten, nämlich gewisse Orthopteren und Libellen. In allen diesen Fällen müssen die Abänderungen, durch deren Anhäufung das Männchen seine eigentümlichen männlichen Charactere erlangt hat, in einer etwas späten Periode des Lebens eingetreten sein, sonst würden die jungen Männchen ähnlich ausgezeichnet worden sein; und in Uebereinstimmung mit unserem Gesetz werden sie nur auf erwachsene Männchen vererbt und entwickeln sich nur bei diesen. Wenn andererseits das erwachsene Männchen den


Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, I. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 305. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch1.djvu/319&oldid=- (Version vom 31.7.2018)