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und dies hängt, wie früher gezeigt wurde, von verschiedenen complicirten Zufälligkeiten ab.

Geschlechtliche Zuchtwahl wirkt in einer weniger rigorösen Weise als natürliche Zuchtwahl. Die letztere erreicht ihre Wirkungen durch das Leben oder den Tod, auf allen Altersstufen, der mehr oder weniger erfolgreichen Individuen. In der That folgt zwar der Tod auch nicht selten dem Streite rivalisirender Männchen. Aber allgemein gelingt es nur dem weniger erfolgreichen Männchen nicht, sich ein Weibchen zu verschaffen, oder dasselbe erlangt später in der Jahreszeit ein übriggebliebenes und weniger kräftiges Weibchen, oder erlangt, wenn die Art polygam ist, weniger Weibchen, so dass es weniger oder minder kräftige oder gar keine Nachkommen hinterlässt. Was die Structurverhältnisse betrifft, welche durch gewöhnliche oder natürliche Zuchtwahl erlangt werden, so findet sich in den meisten Fällen, solange die Lebensbedingungen dieselben bleiben, eine Grenze, bis zu welcher die vortheilhaften Modifikationen in Bezug auf gewisse specielle Zwecke sich steigern können. Was aber die Structurverhältnisse betrifft, welche dazu führen, das eine Männchen über das andere siegreich zu machen, sei es im directen Kampfe oder im Gewinnen des Weibchens durch allerhand Reize, so findet sich für den Betrag vortheilhafter Modifikationen keine bestimmte Grenze, so dass die Arbeit der geschlechtlichen Zuchtwahl so lange fortgehen wird, als die gehörigen Abänderungen auftreten. Dieser Umstand kann zum Theil den häufigen und ausserordentlichen Betrag von Variabilität erklären, welchen die secundären Geschlechtscharactere darbieten. Nichtsdestoweniger wird aber die natürliche Zuchtwahl immer entscheiden, dass die siegreichen Männchen keine Charactere solcher Art erlangen, wenn dieselben für sie in irgend hohem Grade schädlich sein würden, sei es dass zu viel Lebenskraft auf dieselben verwendet würde, oder dass die Thiere dadurch irgend grossen Gefahren ausgesetzt würden. Es ist indess die Entwickelung gewisser solcher Bildungen – z. B. des Geweihes bei manchen Hirscharten – bis zu einem wunderbaren Extreme geführt worden und in manchen Fällen bis zu einem Extreme, welches, soweit die allgemeinen Lebensbedingungen in Betracht kommen, für das Männchen von einem unbedeutenden Nachtheile sein muss. Aus dieser Thatsache lernen wir, dass die Vortheile, welche die begünstigten Männchen aus dem Siege über andere Männchen im Kampfe oder in der Bewerbung erlangt haben, wodurch, sie auch in den Stand gesetzt wurden, eine zahlreichere


Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, I. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 297. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch1.djvu/311&oldid=- (Version vom 31.7.2018)