Zuchtwahl verkümmert, weil sie der Art und der veränderten Lebensweise nachtheilig geworden sind. Der Process der Verkümmerung wird wahrscheinlich oft durch die beiden Principe der Compensation und Oekonomie des Wachsthums unterstützt; aber die letzten Stufen der Verkümmerung, — wenn nämlich der Nichtgebrauch Alles, was ihm einigermaassen zugeschrieben werden kann, vollbracht hat, und sobald die durch die Oekonomie des Wachsthums bewirkte Ersparniss sehr klein würde[1] —, sind nur schwer zu erklären. Die endliche und vollständige Unterdrückung eines Theils, welcher bereits nutzlos und in der Grösse sehr verkümmert ist, in welchem Falle weder Compensation noch Oekonomie des Wachsthums in's Spiel kommen können, lässt sich vielleicht mit Hülfe der Hypothese der Pangenesis verstehen und, wie es scheint, auf keine andere Weise. Da indess der ganze Gegenstand der rudimentären Organe in meinen früheren Werken[2] ausführlich erläutert und erörtert worden ist, brauche ich hier über dieses Capitel nichts mehr zu sagen.
In vielen Theilen des menschlichen Körpers hat man Rudimente verschiedener Muskeln beobachtet;[3] und nicht wenige Muskeln, welche in manchen niederen Thieren regelmässig vorhanden sind, können gelegentlich beim Menschen in einer beträchtlich verkümmerten Form nachgewiesen werden. Jedermann muss die Kraft beobachtet haben, mit welcher viele Thiere, besonders Pferde, ihre Haut bewegen oder erzittern machen, und dies wird durch den Panniculus carnosus bewirkt. Ueberbleibsel dieses Muskels in einem noch wirkungsfähigen Zustande werden an verschiedenen Theilen unseres Körpers gefunden. z. B. an der Stirn, wo sie die Augenbrauen erheben. Das Platysma myoides, welches am Halse entwickelt ist, gehört zu diesem System, kann aber nicht willkürlich in Thätigkeit gebracht werden. Wie mir Professor Turner von Edinburg mittheilt, hat er gelegentlich Muskelfasern an
- ↑ Einige gute kritische Bemerkungen über diesen Gegenstand haben Murie und Mivart gegeben, in: Transact. Zool. Soc. Vol. VII, p. 92.
- ↑ Variiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Domestication. 2. Aufl. Bd. 2. S. 359 und 450. s. auch Entstehung der Arten. 5. (deutsche) Aufl. S. 526.
- ↑ So gibt z. B. Richard (Annal. d. scienc. natur. 3. Sér. Zool. T. XVIII, p. 13) Beschreibung und Abbildung von Rudimenten des von ihm sogenannten „muscle pédieux de la main“, welcher, wie er sagt, zuweilen „infiniment petit“ sei. Ein anderer, „Tibial postérieur“ genannter Muskel ist meist an der Hand gar nicht vorhanden, erscheint aber von Zeit zu Zeit in einem mehr oder weniger rudimentären Zustande.
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, I. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1878, Seite 16. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch1.djvu/30&oldid=- (Version vom 18.8.2016)