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einander abweichen, so sind sie ohne Zweifel durch natürliche Zuchtwahl modificirt worden in Verbindung mit einer auf ein und dasselbe Geschlecht beschränkten Vererbung. Es fallen ferner die primären Geschlechtsorgane und die Organe zur Ernährung und Beschützung der Jungen unter diese selbe Kategorie. Denn diejenigen Individuen, welche ihre Nachkommen am besten erzeugten oder ernährten, werden ceteris paribus die grösste Anzahl hinterlassen, diese Superiorität zu erben, während diejenigen, welche ihre Nachkommen nur schlecht erzeugten oder ernährten, auch nur wenige hinterlassen werden, dieses ihr schwächeres Vermögen zu erben. Da das Männchen das Weibchen aufzusuchen hat, so braucht es für diesen Zweck Sinnes- und Locomotionsorgane. Wenn aber diese Organe für die anderen Zwecke des Lebens nothwendig sind, wie es meistens der Fall ist, so werden sie durch natürliche Zuchtwahl entwickelt worden sein. Hat das Männchen das Weibchen gefunden, so sind ihm zuweilen Greiforgane, um dasselbe fest zu halten, absolut nothwendig. So theilt mir Dr. Wallace mit, dass die Männchen gewisser Schmetterlinge sich nicht mit den Weibchen verbinden können, wenn ihre Tarsen oder Füsse gebrochen sind. Die Männchen vieler oceanischer Crustaceen haben ihre Füsse und Antennen in einer ausserordentlichen Weise zum Ergreifen des Weibchens modificirt. Wir dürfen daher vermuthen, dass diese Thiere wegen des Umstandes, dass sie von den Wellen des offenen Meeres umhergeworfen werden, jene Organe absolut nöthig haben, um ihre Art fortpflanzen zu können; und wenn dies der Fall ist, so wird deren Entwickelung das Resultat der gewöhnlichen oder natürlichen Zuchtwahl sein. Einige, in der ganzen Reihe äusserst niedrig stehende Thiere sind zu dem nämlichen Zwecke modificirt worden; so ist die untere Fläche des hintern Endes ihres Körpers bei gewissen parasitischen Würmern in erwachsenem Zustande wie ein Raspel rauh geworden; damit winden sie sich um die Weibchen und halten sie beständig.[1]


  1. Mr Perrier führt diesen Fall an (Revue Scientifique, 1. Fevr., 1873, p. 865) als einen, der den Glauben an geschlechtliche Zuchtwahl völlig untergrabe; er glaubt nämlich, dass ich alle Verschiedenheiten zwischen den Geschlechtern der geschlechtlichen Zuchtwahl zuschreibe. Es hat sich daher dieser ausgezeichnete Naturforscher, wie so viele Franzosen, nicht die Mühe genommen, auch nur die ersten Grundsätze der geschlechtlichen Zuchtwahl zu verstehen. Ein englischer Zoolog behauptet, dass die Klammerorgane gewisser männlicher Thiere sich nicht hätten durch die Wahl des Weibchens entwickeln können! Hätte ich nicht diese Bemerkung gefunden, so würde ich es nicht für möglich gehalten haben, dass irgend Jemand, der dies Capitel gelesen hat, sich hätte einbilden können, ich behauptete, dass die Wahl des Weibchens mit der Entwickelung von Greiforganen beim Männchen irgend etwas zu thun habe.
Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, I. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 274. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch1.djvu/288&oldid=- (Version vom 31.7.2018)