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Es ist indessen möglich, wenn auch nicht entfernt wahrscheinlich, dass die frühen Urerzeuger des Menschen früher bedeutend in ihren Characteren von einander abgewichen sind, bis sie einander unähnlicher wurden, als es die jetzt bestehenden Rassen irgendwie sind, und dass sie später, wie Vogt[1] vermuthet, in ihren Characteren convergirten. Wenn der Mensch mit einem und demselben Ziele vor Augen die Nachkommen zweier distincter Species zur Nachzucht auswählt, so führt er zuweilen, soweit die allgemeine äussere Erscheinung in Betracht kommt, einen beträchtlichen Grad von Convergenz herbei. Dies ist, wie Nathusius[2] gezeigt hat, mit den veredelten Rassen der Schweine der Fall, welche von zwei distincten Species abgestammt sind, und in einem weniger scharf markirten Grade auch mit den veredelten Rassen des Rindes. Ein bedeutender Anatom, Gratiolet, behauptet, dass die anthropomorphen Affen keine natürliche Untergruppe bilden, dass vielmehr der Orang ein hoch entwickelter Gibbon oder Semnopithecus, der Schimpanse ein hoch entwickelter Macacus und der Gorilla ein hoch entwickelter Mandrill ist. Wenn man diese Folgerung, welche fast ausschliesslich auf Characteren des Gehirns beruht, zugibt, so würde man einen Fall von Convergenz, mindestens in äusseren Merkmalen, vor sich haben; denn die anthropomorphen Affen sind sicherlich in vielen Punkten sich untereinander ähnlicher als sie andern Affen sind. Alle analogen Aehnlichkeiten, wie die eines Walfisches mit einem Fisch, kann man in der That als Fälle von Convergenz bezeichnen; doch ist dieser Ausdruck niemals auf oberflächliche und adaptive Aehnlichkeiten angewendet worden. In den meisten Fällen würde es indessen ausserordentlich voreilig sein, eine grosse Aehnlichkeit der Merkmale in vielen Punkten des Baues bei den modificirten Nachkommen einst weit von einander verschiedener Wesen einer Convergenz zuzuschreiben. Die Form eines Krystalls wird allein durch die Molecularkräfte bestimmt, und es ist nicht überraschend, dass unähnliche Substanzen zuweilen ein und dieselbe Form annehmen können; aber bei organischen Wesen sollten wir uns doch daran erinnern, dass die Form eines jeden von einer endlosen Menge complicirter Beziehungen abhängt, nämlich von Abänderungen, welche von Ursachen abhängen, die viel zu intricat sind,


  1. Vorlesungen über den Menschen. Bd. 2, S. 285.
  2. Die Rassen des Schweins. 1860, S. 46. Vorstudien für eine Geschichte etc. Schweineschädel. 1864, S. 104. In Bezug auf das Rind s. A. de Quatrefages, Unité de l'Espèce Humaine. 1861, p. 119.
Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, I. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 232. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch1.djvu/246&oldid=- (Version vom 31.7.2018)