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zu sein. In dem grossen Unterreiche der Wirbelthiere hat sie im Menschen gegipfelt. Es darf indessen nicht angenommen werden, dass Gruppen organischer Wesen fortwährend unterdrückt werden und verschwinden, sobald sie andern und vollkommeneren Gruppen Entstehung gegeben haben. Wenn auch die Letzteren über ihre Vorgänger gesiegt haben, so brauchen sie doch nicht für alle Stellen in dem Haushalte der Natur besser angepasst gewesen zu sein. Einige alte Formen sind allem Anscheine nach leben geblieben, weil sie geschützte Orte bewohnten, wo sie keiner sehr scharfen Concurrenz ausgesetzt waren; und diese unterstützen uns oft bei der Construction unsrer Genealogien dadurch, dass sie uns ein leidliches Bild früherer und sonst verloren gegangener Bildungen geben. Wir dürfen aber nicht in den Irrthum verfallen, die jetzt lebenden Glieder irgend einer niedrig organisirten Gruppe als vollkommene Repräsentanten ihrer alten Urerzeuger zu betrachten. Die ältesten Urerzeuger im Unterreiche der Wirbelthiere, auf welche wir im Stande sind, einen, wenn auch nur undeutlichen Blick zu werfen, bestanden, wie es scheint, aus einer Gruppe von Seethieren,[1]


  1. Die Bewohner des Meeresstrandes müssen von den Fluthzeiten bedeutend beeinflusst werden; Thiere, welche entweder an der mittleren Fluthgrenze oder an der mittleren Ebbegrenze leben, durchlaufen in vierzehn Tagen einen vollständigen Kreislauf von verschiedenen Fluthständen. In Folge hiervon wird ihre Versorgung mit Nahrung Woche für Woche auffallenden Veränderungen unterliegen. Die Lebensvorgänge solcher, unter diesen Bedingungen viele Generationen hindurch lebender Thiere können kaum anders als in regelmässigen wöchentlichen Perioden verlaufen. Es ist nun eine mysteriöse Thatsache, dass bei den höheren und jetzt auf dem Lande lebenden Wirbelthieren, ebenso wie in andern Classen, viele normale und krankhafte Processe Perioden von einer oder von mehreren Wochen haben; diese würden verständlich werden, wenn die Wirbelthiere von einem mit den jetzt zwischen den Fluthgrenzen lebenden Ascidien verwandten Thiere abstammten. Viele Beispiele solcher periodischen Processe könnten angeführt werden, so die Trächtigkeit der Säugethiere, die Dauer fieberhafter Krankheiten etc. Das Ausbrüten der Eier bietet ebenfalls ein gutes Beispiel dar; denn Mr. Bartlett zufolge („Land and Water“, Jan. 17, 1871) werden Taubeneier in zwei Wochen ausgebrütet, Hühnereier in drei, Enteneier in vier, Gänseeier in fünf und Strausseneier in sieben. So weit wir es beurtheilen können, dürfte eine wiederkehrende Periode, falls sie nur annäherungsweise die gehörige Dauer für irgend einen Vorgang oder eine Function hatte, sobald sie einmal erlangt war, nicht leicht einer Veränderung unterliegen; sie könnte daher fast durch jede beliebige Anzahl von Generationen überliefert werden. Wird aber die Function verändert, so würde auch die Periode abzuändern sein und würde auch leicht beinahe plötzlich um eine ganze Woche ändern. Diese Schlussfolgerung würde, wenn sie als richtig erfunden würde, höchst merkwürdig sein; denn es würden dann die Trächtigkeitsdauer bei einem jeden Säugethiere, die Brütezeit aller Vogeleier, und viele andere Lebensvorgänge noch immer die ursprüngliche Geburtsstätte dieser Thiere verrathen.
Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, I. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 215. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch1.djvu/227&oldid=- (Version vom 31.7.2018)