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rudimentäre und nutzlose Bildungen bei, welche ohne Zweifel einstmals eine Function verrichteten. Gelegentlich erscheinen Merkmale wieder bei ihm, welche, wie wir allen Grund zu glauben haben, im Besitze seiner früheren Urerzeuger waren. Wäre der Ursprung des Menschen von dem aller übrigen Thiere völlig verschieden gewesen, so wären diese verschiedenen Erscheinungen blosse nichtssagende Täuschungen; eine solche Annahme ist indessen unglaublich. Auf der andern Seite aber sind sie wenigstens in einer grossen Ausdehnung verständlich unter der Annahme, dass der Mensch mit anderen Säugethieren von irgend einer unbekannten und niederen Form abstammt.

In Folge des tiefen Eindrucks, welchen die geistigen und seelischen Kräfte des Menschen gemacht haben, haben einige Naturforscher die ganze organische Welt in drei Reiche eingetheilt, das Menschenreich, das Thierreich und das Pflanzenreich, womit sie also dem Menschen ein besonderes Reich einräumen.[1] Geistige Kräfte können von dem Naturforscher nicht verglichen oder classificirt werden; er kann aber zu zeigen versuchen, wie ich es gethan habe, dass die geistigen Fähigkeiten des Menschen und der niederen Thiere nicht der Art nach, wennschon ungeheuer dem Grade nach von einander abweichen. Eine Verschiedenheit des Grades, so gross sie auch sein mag, berechtigt uns nicht dazu, den Menschen in ein besonderes Reich zu stellen, wie vielleicht am besten durch eine Vergleichung der geistigen Kräfte zweier Insecten gezeigt wird, nämlich eines Coccus oder Schildlaus und einer Ameise, welche unzweifelhaft zu einer und derselben Classe gehören. Die Verschiedenheit ist hier grösser, wenn auch von einer etwas verschiedenen Art, als zwischen dem Menschen und dem höchsten Säugethiere. Der weibliche Coccus befestigt sich, während er jung ist, mit seinem Rüssel an eine Pflanze, saugt deren Saft, aber bewegt sich nicht wieder, wird befruchtet und legt Eier; und dies ist seine ganze Geschichte. Andererseits aber die Gewohnheiten und geistigen Kräfte einer Arbeiterameise zu beschreiben, würde, wie Pierre Huber gezeigt hat, einen ganzen Band füllen. Ich möchte indessen kurz einige wenige Punkte anführen. Ameisen tauschen sicher unter einander Mittheilungen aus und mehrere vereinigen sich zu derselben Arbeit oder zum


  1. Isidore Geoffroy Saint-Hilaire gibt einen detaillirten Bericht über die Stellung, welche dem Menschen von verschiedenen Naturforschern in ihren Classificationen eingeräumt worden ist, in seiner: Hist. natur. génér. Tom. II. 1859, p. 170–189.
Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, I. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 191. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch1.djvu/203&oldid=- (Version vom 31.7.2018)